Alfred von Heymel: Verleger. Kunstmäzen. Lebemann.
München 1909: Was macht ein ausgewiesener Bonvivant, der durch ein Erbe zu sagenhaftem Reichtum gekommen ist? Er kauft für 96.000 Mark ein exklusives 4.400 Quadratmeter großes Grundstück im Herzogpark und lässt sich vom in München sehr gefragten Architekten Karl Stöhr ein prunkvolles Wohnhaus im neoklassizistischen Stil errichten – für noch einmal 180.000 Mark. Das eindrucksvolle Bauwerk in der Poschingerstraße 5, das 1910 fertiggestellt wurde, ist heute Sitz des ifo Instituts. Sein erster Eigentümer war eine schillernde Persönlichkeit: Alfred Walter von Heymel.
„Schöne Frauen, schöne Pferde, schöne Blumen ...
... englische Bücher in schmiegsamen Lederbänden, viel gutes Essen und Trinken und viele mehr oder weniger gute Freunde im Schlepptau, so vergingen den jungen Bremern Tage und Nächte.“ Auf diese Weise beschrieb Schriftsteller Rolf von Hoerschelmann den Lebensstil von Alfred von Heymel und von dessen Vetter Rudolf Alexander Schröder, die beide aus Bremen stammten.
"Die Insel" – eine der wichtigsten Zeitschriften der literarischen Moderne in Deutschland
Heymels bedeutendstes mäzenatisches Engagement war die Literaturzeitschrift "Die Insel", die er gemeinsam mit Rudolf Alexander Schröder im Jahr 1899 gründete. Beiträger waren literarische Größen wie Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Robert Walser und die Illustrationen stammten von keinem Geringeren als Heinrich Vogeler.
Rolf von Hoerschelmann über "Die Insel": „Dabei wurden moderne Gedichte, literarische Leckerbissen aus allen Zeiten und Ländern, geistreiche Essays auf schweres Blütenpapier gedruckt, in köstlicher Ausstattung gebunden, denn auch ein Buchverlag wurde der Zeitschrift angegliedert“. Bei diesem Buchverlag handelt es sich um den 1901 ebenfalls von Alfred von Heymel und Rudolf Alexander Schröder gegründeten Insel Verlag, der bis heute besteht. Im Gegensatz zur Zeitschrift, die 1902 nach drei Jahren eingestellt wurde. Es hatten sich einfach zu wenig Käufer gefunden und auch für den reichen Mäzen Heymel wurden die enormen Ausgaben untragbar.
Das Ende einer Zeitschrift. Der Anfang eines dramatischen Lebenswegs
Im Jahr 1904 heiratete von Heymel die Münchnerin Gitta von Kühlmann, "eine blonde aristokratische Schönheit ..." (von Hoerschelmann). 1910 bezog das Paar die neue Villa in der Poschingerstraße 5, doch die Ehe scheiterte. Um Distanz zu seiner Scheidung zu gewinnen, unternahm von Heymel ausgedehnte Reisen nach Afrika und zog schließlich im Jahr 1912 nach Berlin, wo der an Tuberkulose Erkrankte zwei Jahre später verstarb.
Ab den 1920er Jahren residierten in der Villa Heymel unter anderem die Konsulate des damaligen Königreichs Siam und von Argentinien. 1952 bezogen die ersten Mitarbeitenden des ifo das imposante Bauwerk. Wer einmal durch Bogenhausen spaziert, kann es aus nächster Nähe betrachten.
Personen
Ortsgeschichte
Doppelt führt besser: Stephanie Dittmer und Clemens Fuest im Podcast
Ist es besser, zu zweit zu führen? Stephanie Dittmer und Clemens Fuest leiten gemeinsam das ifo Institut. In einem Forschungsinstitut müssen ständig Kompromisse zwischen dem Ideal der wissenschaftlichen Freiheit und den administrativen Anforderungen gefunden werden. Dieser Gegensatz wird beim ifo durch ihren gemeinsamen Ansatz strukturell in eine Führungskultur integriert.
Aber wie kann ein Forschungsinstitut wie das ifo neben exzellenter Forschung auch seine Unabhängigkeit von Politik und Gesellschaft sicherstellen? Und welche Leistungsindikatoren sind geeignet, um Mitarbeitende zu führen?
Tania Lieckweg, Beraterin für Strategieentwicklung, Führung und Organisationsentwicklung erklärt, was eine Doppelspitze erfolgreich macht: Sie ermöglicht Dissens, arbeitet mit einer gemeinsamen Strategie und denkt über den reinen Output hinaus.
Dieser Podcast wurde als Teil der Reihe „Die Zukunftsmacher*innen“ von osb international systematic consulting produziert und ist erstmals im Dezember 2023 als „Science Special“ erschienen.
Ausblicke
Hervorragend: CESifo Mitglieder mit Nobelpreisen
Heute, 25 Jahre nach seiner Gründung, ist das CESifo Netzwerk eines der größten wirtschaftswissenschaftlichen Netzwerke der Welt. Internationale Forscher*innen treffen regelmäßig in München und der ganzen Welt zusammen, um miteinander ihre Perspektiven zu teilen und einen anderen Blick auf ihre Forschungsprobleme zu erhalten. Die Qualität dieses Netzwerks zeigt sich besonders an der Exzellenz der Personen, die es bilden: 13 der inzwischen über 2 000 Mitglieder wurden im Laufe der Jahre von der Königlich Schwedischen Akademie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ein Überblick.
Die Frau am Arbeitsmarkt
Sie ist erst die dritte Frau, die den begehrten Wirtschafts-Nobelpreis erhält. Und das für ihre Arbeit in einem Forschungsfeld, das lange Zeit ebenfalls wenig Beachtung erfuhr. Claudia Goldin, Henry Lee Professor of Economics an der Harvard Universität, Wirtschaftshistorikerin und Arbeitswissenschaftlerin, stellt seit Jahrzehnten die Geschichte der Frau am Arbeitsmarkt in den Fokus ihrer Forschung und zeigt Ungleichheiten in Lohn, Familienstrukturen oder Bildung auf. Wie erging es Frauen im 18. Jahrhundert? Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für heute ableiten? Für ihre umfassenden Einblicke verliehen ihr die Juror*innen 2023 den Nobelpreis. Bereits seit 2022 ist Claudia Goldin Mitglied im CESifo Netzwerk und eine von sechs CES Fellows, die diese begehrte Auszeichnung entgegennehmen durften.
Erfolge und Misserfolge am Arbeitsmarkt
Seit 2024 ist David Card Mitglied im CESifo Netzwerk. Drei Jahre zuvor erhielt er anteilig den Wirtschaftsnobelpreis, die andere Hälfte teilen sich Joshua Angrist und Guido Imbens. Die Königlich Schwedische Akademie würdigte seine Arbeit im Bereich der empirischen Arbeitsökonomie. Mit seinen experimentellen Forschungsmethoden gelang es Card beispielsweise zu belegen, dass eine Anhebung des Mindestlohns nicht wie zuvor angenommen zu weniger Arbeitsplätzen führt. Er beschäftigt sich mit zentralen und lebensnahen Fragestellungen: Warum haben Menschen Erfolg oder Misserfolg am Arbeitsmarkt? Welche Faktoren bewirken Lohnungleichheiten? Angesichts seiner zahlreichen Publikationen und Erkenntnisse ist es erstaunlich, dass David Card ursprünglich Physik studierte und erst spät zu Wirtschaftsforschung wechselte.
Früh sensibilisiert für Armut und Hunger
Als zweite Frau der Geschichte würdigte die Königlich Schwedische Akademie ein weiteres CESifo Mitglied mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Esther Duflo erhielt die Auszeichnung 2019 gemeinsam mit Abhijit Banerjee, ihrem Ehemann, und Michael Kremer. Damit ist sie bislang die jüngste Ökonomin, der diese Ehre zuteil wurde. Ihre Fachgebiete liegen vor allem in der Entwicklungs- und Sozialökonomie. Bereits ihre Mutter, die sich als Kinderärztin bei Hilfsorganisationen engagierte, sensibilisierte die Französin für die Themen Armut, Hunger und soziale Ungleichheit. Da wirkt es beinahe schicksalshaft, dass sie den Nobelpreis ausgerechnet für ihren Beitrag zur Armutsforschung erhalten sollte. Gemeinsam mit ihren Mitforschenden testet Duflo seit den 1990er Jahren in Feldexperimenten effektive Methoden, die globale Armut zu bekämpfen. Seit 2013 schon bereichert Esther Duflo das CESifo Netzwerk mit ihrer Expertise und ihrer Erfahrung.
Prinzipien menschlichen Verhaltens
Viele mögen Verträge vor allem als eines sehen: unverständliche Texte und lästige Bürokratie. Der finnische Wirtschaftswissenschaftler Bengt Holmström erkennt in ihnen aber mehr als Klauseln und Regeln. Bereits Ende der 1970er Jahre analysierte er, wie Eigentümer*innen einer Firma optimale Verträge für ihre CEOs, die „Agenten“, formulieren können. Holmströms Untersuchungen tragen entscheidend dazu bei, wie Unternehmen geführt und Gesetze und Institutionen rechtlich strukturiert werden. Er erkennt in der Vertragstheorie entscheidende Prinzipien menschlichen Verhaltens. Daraus leitet er auch ab, welche Anreize und Zwänge wichtig für eine effektive Arbeitsbeziehung sind. Für seine Erkenntnisse zeichnen ihn die Juror*innen 2016 mit dem Nobelpreis aus. Da er der schwedischen Minderheit in Finnland angehört, dürfte er wohl einer der wenigen Laureaten sein, der die Zeremonie in seiner Muttersprache verfolgen konnte. Im selben Jahr trat er dem CESifo Netzwerk bei.
Der nächste „Ritterschlag“
2016 war ein gutes Jahr für Nobelpreisgewinner*innen im CESifo Netz. Neben Bengt Holmström entschieden sich die Juror*innen, den Preis zu gleichen Teilen auch an Oliver Hart und seinen Beitrag über die Vertragstheorie zu verleihen. Der in London geborene Ökonom gehört dem Netzwerk bereits seit dem Gründungsjahr 1999 an. Schon lange davor trug er dazu bei, das Verständnis für Verträge innerhalb und außerhalb des Marktes zu schärfen. Journalist*innen etwa halten an der Überzeugung fest, Hart habe die US-Regierung in ihrem Beschluss beeinflusst, die Verwaltung von Gefängnissen nicht mehr privaten Vertragspartnern zu überlassen. Bestätigt hat der Wirtschaftswissenschaftler dieses Gerücht nie. Nicht nur die Königlich Schwedische Akademie erkennt seine Leistung an. Auch König Charles III. ehrt Oliver Hart 2023 anlässlich seines Geburtstages mit dem „Knight Bachelor“, dem Ritterschlag. Sir Oliver Hart lehrt an der Harvard Universität.
Ausbruch aus der Armut
Macht Reichtum glücklich, fragt der schottische Ökonom Angus Deaton und geht dieser philosophischen Frage mit wirtschaftswissenschaftlicher Expertise nach. Für seine Analyse von Konsum, Armut und Wohlfahrt erhielt er 2015 den Nobelpreis. Als Auszeichnung für sein Lebenswerk bezeichnete das Komitee die Ehrung. Vielleicht hat Deaton gerade deshalb ein geschärftes Verständnis für Bedürftigkeit, weil er selbst in entbehrungsreichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Er analysiert das Konsumverhalten von Individuen und wie dieses sich auf die Wirtschaftsentwicklung der Gesellschaft auswirkt. Während seinen Forschungsreisen trifft Deaton immer wieder auf Menschen, die auf erstaunliche Weise Bedürftigkeit hinter sich lassen. Für ihn ein Zeichen, dass der Ausbruch Armut immer möglich ist. Seit 2004 teilt er seine inspirierenden Erfahrungen im CESifo Netzwerk und 2016 machte die Queen ihn zu Sir Angus Deaton.
Der „anwendungsorientierte Theoretiker"
Die Juror*innen in Stockholm zeichneten Arbeitsökonom Peter A. Diamond 2010 für die Entwicklung eines theoretischen Rahmens zu Märkten mit Suchfriktion aus. Mit ihm erhalten auch Dale T. Mortensen und Christopher A. Pissarides den Preis. Dank dieser Modelle ist es möglich, die Zusammenhänge von politischer Regulierung und Arbeitslosigkeit, unbesetzten Stellen und Löhnen besser zu verstehen. Als „anwendungsorientierter Theoretiker“, wie Nobelpreisträger Eric Maskin ihn einst bezeichnete, trugen seine Analyse der Rentenstrukturen zur Reform des US-Systems und zum Neuaufbau des polnischen Rentensystems bei. Dass Peter A. Diamond, seit dem Jahr 2000 Mitglied bei CESifo, den Dingen wirklich auf den Grund gehen will und sich tief in die Materie einarbeitet, zeigt auch die Tatsache, dass er nachträglich noch Rechtswissenschaften an der Harvard Law School studierte. Inzwischen ist Diamond Professor Emeritus am MIT, an dem er von 1966 bis 2011 lehrte.
Der Faktor Mensch
Seine eigene Website beschreibt Edmund S. Phelps Lebenswerk als Projekt, „Leute wie wir sie kennen“ in wirtschaftswissenschaftliche Theorie einzubetten. Was darunter zu verstehen ist, mag zunächst genauso bizarr klingen, wie seine Leistung, die ihm den Nobelpreis 2006 einbrachte. Für „seine Analyse intertemporaler Zielkonflikte in makroökonomischer Politik“ verlieh ihm das Komitee in Stockholm die begehrte Auszeichnung. Bereits in den 1960er Jahren begann er, in diesem Bereich zu forschen. Seine Erkenntnisse widerlegten die Annahme, dass eine hohe Arbeitslosigkeit mit einem niedrigen Inflationsniveau zusammenhänge und umgekehrt. Durch seinen Analysen erkannte Edmund S. Phelps, dass in den Modellen unüberlegte oder mangels besserer Information getroffene Entscheidungen nicht berücksichtigt wurden. Seit 2000 teilt er seine Ansätze als Mitglied im CESifo Netz.
Konfliktforschung im Kalten Krieg
Es ist ein bemerkenswerter Zufall, dass Thomas Schelling, ehemaliger Kommilitone von Edmund S. Phelps, nur ein Jahr vor ihm ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. 2005 würdigte ihn die Königlich Schwedische Akademie zusammen mit Robert J. Aumann dafür, „durch spieltheoretische Analysen unser Verständnis von Konflikt und Kooperation vorangebracht“ zu haben. Während des Zweiten Weltkrieges und in den frühen 1950er Jahren betätigte Schelling sich in der Politik und war unter anderem an der Erarbeitung des Marshall-Plans beteiligt. 1960 veröffentlichte er „The Strategy of Conflict“ (deutsch: „Konfliktstrategie“), bis heute eines seiner bekanntesten und bedeutendsten Werke. Es gilt als es eines der 100 einflussreichsten Bücher im Westen seit 1945. Während des Kalten Krieges spielten seine Studien eine prägende Rolle: Schelling fasste Krieg als einen Verhandlungsprozess auf und argumentierte, der beste Weg sich gegen einen Atomangriff zu wappnen sei, seine eigenen nuklearen Waffen zu schützen. Auch Thomas Schelling war seit dem Gründungsjahr 1999 Teil im CESifo Netz und blieb bis zu seinem Tod 2016 im Alter von 95 Jahren ein geschätztes Mitglied.
Die Heckman-Korrektur
James Heckman beschäftigt sich mit der politischen Ökonomie. Er untersucht, wo Wirtschaft und andere Wissenschaften sich kreuzen, um die wesentlichen Probleme der Gesellschaft zu erfassen. Dass er darüber hinaus auch Wirtschaftsstatistiker ist, half ihm bei der Entwicklung seines ausgezeichneten Werkes: Gemeinsam mit Daniel McFadden gelang es ihm, „Theorien und Methoden zur Analyse selektiver Stichproben“ zu erarbeiten. Dies brachte den beiden im Jahr 2000 den Nobelpreis ein. Was zunächst abstrakt klingt, verschaffte politischen Entscheidungsträger*innen entscheidende neue Einblicke in Bereiche wie Bildung und Berufsausbildung. Statistische Probleme der Stichprobenauswahl bei Analysen von Verhalten von Individuen oder Haushalten können nun dank der Heckman-Korrektur überwunden werden. Bei CESifo ist James Heckman bereits seit 2003 Mitglied.
Von Soziologischem in der Ökonomie bis zur Spieltheorie
Gary Becker (1930-2014), CESifo Mitglied seit 1999, bezog als einer der Ersten auch soziologische Themen in die Wirtschaftswissenschaft ein. Das Komitee in Stockholm würdigte ihn deshalb 1992 für seine Ausdehnung der Mikroökonomie auf weite Teile des menschlichen Verhaltens und der Zusammenarbeit. Vier seiner Schüler, darunter Peter A. Diamond, erhielten ebenfalls den Nobelpreis: Robert M. Solow (1924-2023) wurde 1987 für seine Beiträge zur ökonomischen Wachstumstheorie ausgezeichnet. Das Solow-Modell erklärt langfristiges Wirtschaftswachstum durch technischen Fortschritt. Dem CESifo Netz gehörte er seit 1999 an. Als bisher einziger Deutscher erhielt Reinhard Selten (1930-2016) den Wirtschafts-Nobelpreis. Das Komitee würdigte seine Verdienste im Bereich der Spieltheorie. Auch Selten war ab 1999 Mitglied bei CESifo.
Netzwerk
Personen
Ludwig Erhard: Wissenschaftler. Bundeskanzler. Visionär.
Mit dem Namen Ludwig Erhard verbindet sich vor allem die Idee der Sozialen Marktwirtschaft, der bis heute die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland folgt. Erhards politische Karriere führte ihn ins Amt des Bundesministers für Wirtschaft unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949 - 1963). Sie gipfelte im Amt des Bundeskanzlers, das er von 1963 bis 1966 bekleidete. Erhard spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung des ifo Instituts.
Akademische Laufbahn statt Textilgeschäft
Geboren wurde Ludwig Erhard am 4. Februar 1897 im bayerischen Fürth. Nach dem Besuch der Volks- und Realschule sowie dem Abschluss einer Lehre als Weißwarenhändler im Jahr 1916 sollte er das elterliche Textilgeschäft übernehmen. Doch es kam erst einmal anders: Trotz eines durch Kinderlähmung deformierten Fußes kämpfte Erhard ab 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg. 1918 wurde er bei Ypern (Belgien) schwer verwundet und schied 1919 aus dem Militärdienst aus.
Statt in das väterliche Geschäft einzusteigen, nahm er ein Studium an der Handelshochschule Nürnberg auf, das er 1922 als Diplom-Kaufmann abschloss. Daraufhin studierte er Betriebswirtschaft, Nationalökonomie und Soziologie an der Universität Frankfurt, interessierte sich aber besonders für Volkswirtschaft: Er selbst bezeichnete sich einmal als Studenten, „der Betriebswirtschaft lernen wollte, aber von volkswirtschaftlichem Eifer besessen“ gewesen sei. 1925 promovierte Erhard und stieg als Geschäftsführer in das elterliche Unternehmen ein, für das er aber 1929 Konkurs anmelden musste.
Schon ein Jahr zuvor war er an das Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware in die Wissenschaft zurückgekehrt. Dort stieg er bis zum Stellvertretenden Forschungsleiter auf. 1942 gab er diese Position auf, um sein eigenes Institut für Industrieforschung zu gründen, das sich auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs bereits mit Fragen des späteren Wiederaufbaus beschäftigte. Die Gründung dieser Forschungsstätte gehört zu den wichtigen Stationen der Vorgeschichte des ifo Instituts.
Der „Linksdemokrat“ Erhard wird bayerischer Wirtschaftsminister
Erhards erfolgreiches Wirken in der Wirtschaftsbeobachtung, der wirtschaftspolitischen Analyse und bei der Beratung von Praktikern hatten seine politische Karriere vorbereitet. Gleich am Tag nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in seine Heimatstadt Fürth (18. April 1945) stellte sich Erhard bei der Militärbehörde als Wirtschaftsexperte vor und bot seine Dienste an. Am 22. Oktober 1945 wurde er vom amerikanischen Militärgouverneur zum Minister für Handel und Gewerbe in der neuen Bayerischen Staatsregierung ernannt, die vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner geführt wurde. Erhard war damals parteilos und wurde in der Kabinettsliste mit der Bezeichnung „Linksdemokrat“ geführt.
Zum Jahreswechsel 1945/46 schätzte er die Möglichkeiten der bayerischen Regierung beim Wiederaufbau als gering ein. Er erklärte, „eine nur bayerische Wirtschaftspolitik könne die anstehenden Probleme nicht lösen, dies sei nur im deutschen Rahmen und in einer Zusammenarbeit über Deutschlands Grenzen hinaus möglich“. Diese Forderung empfanden manche Regierungskollegen als Provokation. Ludwig Erhard isolierte sich in der bayerischen Politik immer stärker. Nach den ersten Wahlen zum Bayerischen Landtag am 21. Dezember 1946 verlor er sein Amt.
Der Start für den nächsten Karriereschritt
Wieder einmal erwies sich ein beruflicher Rückschlag im Nachhinein als nächste Stufe von Erhards rasantem beruflichen Aufstieg. Denn die Münchener Jahre nach dem Ende des Krieges halfen nicht nur seinen politischen Ambitionen, sondern boten ihm auch die Möglichkeit, sich mit führenden Nationalökonomen und Finanzwissenschaftlern auszutauschen. Dazu hatte er vor allem in der – von Adolf Weber gegründeten – „Volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft für Bayern“ Gelegenheit. Hier erwarb er sich weitere ökonomische Kompetenz, die seine politische Karriere über die bayerischen Grenzen hinaus führte. 1947 leitete Erhard die Sonderstelle „Geld und Kredit“ bei der Verwaltung der Finanzen der britisch-amerikanischen Bizone in Frankfurt, am 2. März 1948 wurde er zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes gewählt und war damit für die Wirtschaftspolitik in den westlichen Besatzungszonen verantwortlich. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 ernannte ihn Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) im zum Wirtschaftsminister seines ersten Kabinetts.
Das deutsche Wirtschaftswunder
Ludwig Erhard trat vehement für eine freie, soziale Wirtschaftsordnung ein, die in Westdeutschland anderthalb Jahrzehnte lang ein eindrucksvolles Wachstum hervorbrachte. Die Bundesrepublik schaffte es in die vorderste Reihe der Industrie- und Exportnationen.
Nach 14 Jahren im Amt des Wirtschaftsministers zog Erhard 1963 für nur drei Jahre ins Kanzleramt ein. Meinungsverschiedenheiten über wirtschaftliche und finanzpolitische Fragen führten im Jahr 1966 zum Ende der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Noch während Erhards Kanzlerschaft geriet die Bundesrepublik zum ersten Mal in eine Wirtschaftskrise. Schon seit 1960 verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum. Die Kritik an Erhards Sparpolitk wurde immer lauter. Am 10. November 1966 nominierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Kurt Georg Kiesinger zum Kanzler, am 1. Dezember erklärte Erhard seinen Rücktritt.
Am 4. Februar 1977 erhielt er anlässlich seines 80. Geburtstags zahlreiche Ehrungen – gut drei Monate später starb er am 5. Mai in Bonn an Herzversagen. Im Sinne seiner Vision erforscht heute das Ludwig Erhard ifo Zentrum für Soziale Marktwirtschaft und Institutionenökonomik in Fürth staatliches Handeln im Lichte neuer Herausforderungen. Zum Gedenken an Erhard wurde der große Vortragssaal im ifo Institut in „Ludwig-Erhard-Saal“ umbenannt.
Anfänge
Personen
Mit untrüglichem Gemeinschaftssinn: Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom
Elinor Ostrom (1933-2012) war Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Indiana University in Bloomington (USA). Gemeinsam mit ihrem Ehemann Vincent Ostrom begründete sie die sogenannte Bloomington School. Ihre Forschung richtet sich auf die Überwindung der Dichotomie von Staat und Markt und sucht nach effizienten Mischformen beider Systeme. Prinzipien der Selbstorganisation gab Ostrom gegenüber Institutionen zentraler staatlicher Regelung den Vorzug. Zu Ehren der Nobelpreisträgerin heißt das ifo-Gebäude direkt neben dem Hauptgebäude in der Poschingerstraße 5 „Elinor-Ostrom-Villa".
Höchste Anerkennung: Der Nobelpreis
2009 wurde Elinor Ostrom als erste Frau mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Sie habe gezeigt, „wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann“, heißt es in der Würdigung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Auf dem Weg zu diesem Höhepunkt ihrer Karriere musste sie viele Widerstände überwinden. Als etwa die junge motivierte Studentin 1960 ein erstes Stipendium an der University of California, Los Angeles, zugesprochen bekam, beklagten Mitglieder der Fakultät eine "Verschwendung knapper Ressourcen", denn es sei doch unwahrscheinlich, dass eine Frau jemals Professorin werde.
Welch ein Irrtum! Im Laufe ihrer Karriere eröffnete Elinor Ostrom ihrem Fach immer neue Perspektiven, etwa die Umweltökonomik oder die Allmendeforschung. Sie habe erkannt, so das Nobelkomitee, dass Menschen „häufig raffinierte Mechanismen" der Entscheidungsfindung und Regeldurchsetzung entwickelt hätten, um „drohende Interessenkonflikte" im Umgang mit Gemeingütern zu vermeiden – und zwar ohne Einbeziehung staatlicher oder marktwirtschaftlicher Vorherrschaft.
Ostroms Forschung befasste sich mit der Frage, wie sich Menschen organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Aufgabenstellungen zu bewältigen. Sie analysierte, wie sich Regeln von Institutionen auf Handlungen von Individuen auswirken, die bestimmten Anreizen ausgesetzt sind und die Entscheidungen treffen müssen. Und sie präsentierte für diese Herausforderungen umfassende Lösungen.
Nachhaltige Selbstorganisation
International bekannt wurde Ostrom mit ihrem Buch „Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action" (1990, dt. „Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Markt und Staat", 1999). Allmende sind nutzbare Grundstücke, die einem Dorf gehören – also einen Teil des Gemeindevermögens darstellen.
Ostrom kam zu dem Ergebnis, dass für eine nachhaltige Bewirtschaftung von Allmenden oft eine lokale Zusammenarbeit die beste Lösung sei – und nicht etwa staatliche Verwaltung oder Privatisierungen. Ostrom untersuchte weltweit erfolgreiche und gescheiterte Beispiele für nachhaltige Selbstorganisationen. Auf der Basis dieser empirischen Forschung entwickelte sie die sogenannten „Design Principles" für eine funktionierende Verwaltung. Zu diesen Prinzipien zählen klare und akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzer*innen und Nicht-Nutzungsberechtigten. Außerdem müssten Beschlüsse gemeinschaftlich getroffen werden. Konfliktlösungsmechanismen innerhalb der Allmende sollten schnell, günstig und direkt organisiert sein.
Gemeinsame Ressourcen klug nutzen
Meere werden überfischt, Wälder gerodet, natürliche Ressourcen ausgereizt. Ist das der unverrückbare Lauf der Dinge? Wenn es um die zentralistische Verwaltung von Ressourcen geht, berufen sich deren Vertreter*innen gerne auf die „Tragik der Allmende", die der US-amerikanische Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin 1968 in seinem Essay „The Tragedy of the Commons" beschrieb. Sein prägnantes Bild: eine Weide, auf die jeder seine Schafe zum Grasen treiben darf. Diese Möglichkeit würde die Herdenbesitzer dazu ermutigen, sich immer mehr Schafe anzuschaffen und wieder ertragreich zu verkaufen, bis auf dem Boden irgendwann kein Gras mehr nachwachsen würde. Der unbeschränkte Zugang zu beschränkten Ressourcen führe automatisch zu deren Ausbeutung, argumentiert Hardin. „Freiheit auf der Allmende", so seine Schlussfolgerung, „bringt allen Beteiligten den Ruin." Doch Elinor Ostrom fand Lösungen für die Probleme bei der Nutzung lokaler Ressourcen – jenseits der Privatisierung – und ohne zentralstaatliche Verwaltung.
Systeme neben Markt und Zentralismus
Für den Austausch privater Güter muss der Markt nicht das einzige Steuerungsinstrument sein. Bei öffentlichen Gütern ist keine zentrale Steuerung notwendig, um egoistisches Handeln einzudämmen und bei Konflikten den Interessenausgleich zu regeln. Elinor Ostroms Datenbank am Center for the Study of Institutional Diversity in Tempe (US-Bundesstaat Arizona) enthält über 1.000 Fallstudien zur gemeinschaftlichen Nutzung knapper Güter – eine Fülle von Beispielen, wie es Menschen sehr wohl gelingt, miteinander zu kooperieren und dabei die Umwelt zu schonen.
Schon mit ihrer ersten Feldstudie in den 1970er Jahren fand Ostrom Hinweise, dass kleinere Einheiten bei der kommunalen Organisation von Gemeingütern effektiver agierten als zentrale Verwaltungen: So drohten im Süden Kaliforniens infolge der wachsenden Bevölkerung die Grundwasserreserven zu schwinden. Ostrom stieß auf unterschiedliche Strukturen und flexible Netzwerke, mit denen die Kommunen die Entnahme von Grundwasser regelten. Und es zeigte sich: Die aus der Not geborenen Gemeinschaften in kleineren und mittleren Städten kamen mit den Herausforderungen des Wassermanagements besser zurecht als staatliche Institutionen.
Was man von Hummerfischern lernen kann
In den 1920er Jahren wären die Hummerbestände im US-Bundesstaat Maine durch Überfischung beinahe vernichtet worden. Angesichts dieser Bedrohung stellten sich die lokalen Fischer neu auf. Sie entwickelten eine Reihe kreativer Regeln, einschließlich einer Überwachungsmethode der bedrohten Hummerbestände. So markierte man etwa trächtige Hummerweibchen und ließ sie wieder frei, um so den weiteren Nachwuchs zu sichern. Ein Händler, der auf einem Markt ein Tier mit einer Markierung anbot, fiel auf und wurde von Fischern und Käufern geächtet. Diese und andere Mechanismen sorgten dafür, dass sich die Hummerpopulation wieder nachhaltig erholte.
Eindrucksvoll hat Elinor Ostrom unter Beweis gestellt, dass Komplexität nicht automatisch Chaos bedeutet. Wer Ostroms Lebenswerk betrachtet, begibt sich auf eine Entdeckungsreise zu erstaunlich vielfältigen Systemen, die Menschen entwickelt haben, um gemeinsame Ressourcen nachhaltig zu nutzen.
Personen
Worüber schweigt Clemens Fuest lieber?
Geboren 23. August 1968 in Münster
Beruf Professor für Volkswirtschaftslehre, Präsident des ifo Instituts
Ausbildung Studium der Volkswirtschaftslehre
Status Index ist gleich Saldo im Betriebsmonat + 200 geteilt durch Durchschnittlicher Saldo im Basisjahr + 200 mal 100
Dass Clemens Fuest Interviews gibt, ist lang keine Besonderheit mehr. Über die Jahre ist aus ihm mit Fernsehauftritten in Talkshows, den Nachrichten, oder Pressestatements ein regelrechter Medienprofi geworden. Am 11. November 2021 erschien in der Süddeutschen Zeitung (SZ) aber ein Beitrag, der auch für ihn Neuland gewesen sein dürfte: Ein Interview, ganz ohne Worte, fotografiert von Regina Recht. Nur mit Gestik, Mimik, und vollem Körpereinsatz gab Fuest seine Einschätzungen ab: zu den Themen, die damals bewegten, ganz im Zeichen der Corona-Pandemie und der letzten Bundestagswahl, und zu etwas privateren Themen.
Als Präsident des ifo Instituts ist es die Aufgabe von Clemens Fuest, Prognosen zu stellen, genauer gesagt: möglichst verlässliche Vorhersagen darüber zu treffen, ob die Wirtschaft wächst oder schwächelt. Gibt er Interviews, und das tat er während der Corona-Pandemie ziemlich oft, trägt er einen dunklen Anzug und verwendet Wörter wie „Flaschenhals-Rezession“ und „Beschaffungsprobleme.“ Kurz: Clemens Fuest ist Pragmatiker. Am liebsten rechnet er. Und zwar ungestört und lange. So lange, bis es eine therapeutische Wirkung entfaltet. „Erwarten Sie nicht zu viel“ , warnt er dann auch zu Beginn der Fotoaufnahmen, „ich bin kein Schauspieler“, um anschließend – sehen Sie selbst – über sich hinauszuwachsen. Clemens Fuest und sein Team stellen rund 9 000 deutschen Unternehmen regelmäßig zwanzig Fragen: Wie läuft’s? Wie ist die Nachfragesituation? Was erwartet ihr in den kommenden Monaten? Daraus ergibt sich der ifo Geschäftsklimaindex. Im Oktober lag er bei 97,7 – der vierte Rückgang in Folge. Übersetzt: Es könnte besser laufen. Wird es nächstes Jahr auch, glaubt Fuest.
Zur Erstveröffentlichung des Interviews in der SZ bitte hier entlang: Zu Süddeutsche Zeitung.
Personen
75 Jahre ifo Institut und 25 Jahre CESifo
75 Jahre ifo – 25 Jahre CESifo – zusammen 100 Jahre Erkenntnis: wissenschaftlich fundiert, die Politik nachhaltig beeinflussend, für Generationen prägend. Wir möchten Sie dazu einladen, 75 Jahre ökonomische Forschung und Politikberatung zu entdecken. Unter dem Motto „75 Jahre ifo – 75 Geschichten“ werfen wir im Laufe des Jubiläumsjahres Schlaglichter auf wichtige Ereignisse und beleuchten die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft von ifo Institut und CESifo. Wir lassen Menschen zu Wort kommen, wir erkunden Orte und wir begeben uns auf die Suche nach Meilensteinen der (wirtschafts-)politischen Entwicklung, die das Institut über die Jahre begleitet hat.
Eines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Europa
Das ifo Institut ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer Fusion zweier Institute hervorgegangen: der Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung und dem Süddeutschen Institut für Wirtschaftsforschung, das Ludwig Erhard 1946 gegründet hatte. Heute steht es für exzellente wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Politikberatung mit internationaler Ausstrahlung. „Unsere Forschung ist die Basis, um Politik, Unternehmen und Öffentlichkeit verlässliche Analysen und Daten für informierte Entscheidungen zur Verfügung zu stellen“, erklärt ifo Präsident Clemens Fuest zum Startschuss des Jubiläumsjahrs 2024. „Unsere Geschichte begann mit der Konjunkturbeobachtung über eigene Befragungen. Heute erschließen wir z.B. neue Datenquellen – Big Data – um ökonomische Entwicklungen schneller analysieren und interpretieren zu können.“
Im Gründungsteam: Helmut Schlesinger und Karl-Otto Pöhl
Wie alles begann: Am 1. März 1949 nahmen sechs Vollzeitangestellte und 20 Teilzeitangestellte ihre Arbeit auf. Zu den frühen Mitarbeitern zählten die späteren Bundesbank-Präsidenten Helmut Schlesinger und Karl-Otto Pöhl. Der heutige Name ifo steht für „Information und Forschung“ und wurde dem Namen erst 1950 hinzugefügt. Bereits Im Herbst 1949 starteten die Unternehmensbefragungen als innovative Methode der Wirtschafts- und Konjunkturbeobachtung. Sie sollten über die Jahre zum wichtigsten Informationsangebot und Markenzeichen des Instituts werden: Noch heute sind sie die Basis für das monatlich veröffentlichte ifo Geschäftsklima, einen weltweit beachteten Indikator zur konjunkturellen Entwicklung Deutschlands.
Die ifo Familie wächst
Seit 1993 gibt es die Niederlassung Dresden, die sich seit der Wiedervereinigung mit den strukturpolitischen Belangen der neuen Bundesländer, insbesondere des Freistaates Sachsen auseinandersetzt. 1999 gründete der ehemalige ifo Präsident Hans-Werner Sinn die CESifo GmbH, ein Netzwerk von heute über 2000 Ökonom*innen weltweit, darunter mehrere Nobelpreisträger*innen. Seit 2002 ist das ifo außerdem ein „an“ Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2022 eröffnete das Ludwig Erhard ifo Zentrum für Soziale Marktwirtschaft und Institutionenökonomik in Fürth. 2023 modernisierte das ifo Institut im Zuge des neuen Schwerpunktes Big Data Economics das LMU-ifo Economics Business Data Center (EBDC). Es ist ein akkreditiertes Forschungsdatenzentrum und eine zentrale forschungsorientierte Querschnittseinheit für alle ifo Zentren, ihre Forschungspartner und externe Gastforscher*innen.
„Shaping the Economic Debate“
Neben der Konjunktur beschäftigen sich die neun Forschungsbereiche des Instituts heute mit aktuellen Themen wie Klimawandel, Geoökonomik, neuen Technologien oder Ungleichheit. Die gewonnenen Erkenntnisse ziehen weite Kreise: Sie werden zum einen in der Fachcommunity diskutiert und in erstklassigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen publiziert. Um Forschung auf einem exzellenten Niveau betreiben zu können, fördern wir unseren wissenschaftlichen Nachwuchs sehr intensiv. Zum anderen bereiten wir die Erkenntnisse für die öffentliche Debatte auf. Unter anderem über Berichterstattung in den Medien bieten ifo Analysen wichtige Informationen für interessierte Bürger*innen, Vertreter*innen von Unternehmen und Verbänden. Auch Vertreter*innen aus der Politik suchen den Rat des ifo Instituts, wenn Entscheidungen von bedeutender Tragweite anstehen.
Anfänge
Ausblicke
Aufschwung. Boom. Krise: Der ifo Geschäftsklimaindex
Der monatliche ifo Geschäftsklimaindex ist für Entscheidungsträger*innen in Wirtschaft, Politik und Finanzbranche unverzichtbar. Wie entstand beim ifo Institut die Idee, das Geschäftsklima zu ermitteln? Warum finden diese Zahlen auch außerhalb der Wirtschaft so viel Beachtung?
Eine Pionierleistung des ifo Instituts
Informationen über die aktuelle Situation der deutschen Wirtschaft durch Befragung von Unternehmenslenkern zu gewinnen: Diese Idee verfolgte bereits 1948 die „Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung“ des Bayerischen Statistischen Landesamts, die ein Jahr später in das ifo Institut aufgehen sollte. Nach der Währungsreform 1948 hatten sich die Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft grundlegend verändert, verlässliche Zahlen waren rar und dynamische Indikatoren als Ergänzungen zu den Statistiken dringend gefragt. Diese im direkten Kontakt mit Unternehmern zu gewinnen, war damals eine absolute Innovation für die empirische Wirtschaftsforschung in Europa. Nach der Gründung im Jahr 1949 übernahm das ifo diese Form der direkten Befragung und entwickelte die Fragebögen weiter. Gefragt wurde ganz gezielt nach der Einschätzung der Entwicklung des eigenen Unternehmens und hier nicht nach konkreten Unternehmensdaten, sondern nach einer qualitativen Beurteilung – bis heute ein entscheidendes Merkmal der ifo Unternehmensbefragungen.
In den 1960er Jahren konzentrierte sich die Analyse des umfangreichen Fragebogens immer stärker auf die Indikatoren des Geschäftsklimas. Dabei kombinierten die ifo-Experten die Einschätzungen der gegenwärtigen Unternehmenslage mit denen zur Geschäftserwartung für die nächsten sechs Monate, bis heute das Alleinstellungsmerkmal des ifo Geschäftsklimaindex. Ein großer Vorteil dieser Methode: Sie lässt frühzeitig Anzeichen für Wendepunkte in den konjunkturellen Phasen erkennen.
Im Dezember 1971 veröffentlichte das ifo sein „Geschäftsklima Verarbeitende Industrie“ erstmals an versteckter Stelle im ifo Schnelldienst. Damals ahnte niemand, welche Bedeutung dieser Frühindikator später für die öffentliche Wahrnehmung des Instituts erlangen sollte.
Vier Sektoren, Lage und Erwartungen
Für den ifo Geschäftsklimaindex werden etwa 9 000 Fragebögen ausgewertet – mit Antworten aus Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes, des Bauhauptgewerbes, des Groß- und Einzelhandels sowie des Dienstleistungssektors.
Aus diesen gesammelten Daten werden nun die Differenzwerte ermittelt. Bei der gegenwärtigen Geschäftslage wird die Differenz zwischen den Antworten „gut“ und „schlecht“ errechnet, bei den Erwartungen geht es um die Differenz der Antworten „günstiger“ und „ungünstiger“. Die jeweiligen Mittelpositionen – also „befriedigend“ bei der aktuellen Geschäftslage und „gleich bleibend“ bei den Erwartungen – werden als neutral eingestuft und nicht in die Bewertung mit einbezogen. Der ifo Geschäftsklimaindex ergibt sich schließlich als Mittelwert aus den Salden der Geschäftslage und der Erwartungen.
Ein Rechenbeispiel
Von den befragten Unternehmen schätzen in diesem Beispiel 40% ihre Lage als befriedigend ein, 35% als gut und 25% als schlecht. Der Anteil der Befragten (40%), der die Lage als befriedigend bezeichnet, wird nicht in die Berechnung mit einbezogen. Zur Ermittlung der gegenwärtigen Geschäftslage wird nun die Differenz ermittelt zwischen 35% („gut“) und 25% („schlecht“) – daraus ergibt sich der Wert „10“. Genauso wird der Wert für die Erwartungen für die nächsten sechs Monate festgestellt. Aus dem Wert für die aktuelle Lage und dem Wert für die Erwartungen wird als Mittelwert jeden Monat der ifo Geschäftsklimaindex berechnet.
Der ifo Geschäftsklimaindex kann zwischen zwei Extremwerten schwanken. Bei einem Wert von „-100“ würden 100 % der Befragten die gegenwärtige Lage schlecht einschätzen sowie eine Verschlechterung der Entwicklung erwarten, bei einem Wert von „+100“ würden 100% der Befragten die gegenwärtige Lage gut einschätzen sowie eine Verbesserung der Entwicklung erwarten.
Strenges Protokoll bei der Veröffentlichung
Der ifo Geschäftsklimaindex gehört zu den meist beachteten Indikatoren für die Einschätzung der deutschen Wirtschaft, er kann an den Finanzmärkten Kursreaktionen auslösen. Deshalb folgen Berechnung und Veröffentlichung einem strengen Protokoll:
7:00h: Die Berechnung erfolgt in der Nacht vor der Veröffentlichung. Die Ergebnisse werden dem Leiter der Befragungen automatisch zugesandt.
8:00h: Dieser analysiert die Werte und berücksichtigt dabei auch Teilergebnisse (etwa die Entwicklung in der Autoindustrie), die für die Interpretation des Gesamtergebnisses oft wichtig sind. Anschließend verfasst er einen Entwurf der Pressemitteilung.
8:45h: Ein exklusiver Kreis bespricht den Wortlaut der Pressemitteilung auf Deutsch und Englisch: der ifo-Präsident, der Leiter Konjunkturprognosen, der Leiter Befragungen, die Leiterin Kommunikation, der Pressesprecher sowie ein*e Übersetzer*in.
10:00h: Der Pressesprecher verliest die Pressemitteilung in einer Videokonferenz, kurz darauf wird sie auf Deutsch, Englisch und Französisch versandt. Zugeschaltet sind nur bei der Europäischen Zentralbank akkreditierte Nachrichtenagenturen.
10:30h: Der Index wird auf der ifo-Website veröffentlicht.
Verlässlicher Pulsmesser der Konjunktur
Warum findet der Geschäftsklimaindex des ifo so viel Beachtung? Seine Ergebnisse stimmen in hohem Maße mit der realen Konjunkturentwicklung überein. Deshalb ist er eine solide Basis für Entscheidungen in Unternehmen, Politik und Finanzwirtschaft. Er ist aktueller als andere offiziellen Indikatoren. So veröffentlicht etwa das Statistische Bundesamt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur einmal im Quartal.
Die Motivation teilzunehmen ist für Unternehmen hoch: Die Unternehmen geben wertvolle Auskünfte – und haben ihrerseits exklusiven Zugang zu detaillierten Informationen, die sie an keiner anderen Stelle finden könnten. Diese Konstellation ist entscheidend für den Erfolg dieser wichtigsten Serviceleistung des ifo Instituts.
Veröffentlichung
Bewohner eines der Drillingshäuser: Bruno Walter und Bruno Frank
Bruno Walter und Bruno Frank hießen die ersten Bewohner des ifo-Gebäudes in der Mauerkircherstraße 43. Ihr bedeutendes künstlerisches Wirken in München und der freundschaftlich-intellektuelle Austausch mit den Nachbar*innen im Herzogpark, vor allem mit der Familie von Schriftsteller-Legende Thomas Mann, bilden ein eigenes Kapitel in der Kulturgeschichte dieses Landes bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Seit 1963 ist das ifo Institut im Besitz des so geschichtsträchtigen Gebäudes.
Dirigent und Eigentümer Bruno Walter
1913 erwarb der Dirigent und Komponist Bruno Walter eines der sogenannten „Drillingshäuser“, die 1909 vom Münchener Architekten Paul Böhmer erbaut worden waren. Obwohl Walter als Jude unter unverhohlenen antisemitischen Anfeindungen litt, bezeichnete er das knappe Jahrzehnt, das er im Herzogpark verbrachte, wegen der „Fülle und Intensität des künstlerischen Geschehens als die fruchtbarste Zeit meines Lebens“. Bruno Walter blieb bis Herbst 1922 Generalmusikdirektor in München.
Literat und Mieter Bruno Frank
Als er 1924 nach Berlin an die Städtische Oper wechselte, vermietete Bruno Walter sein Haus an das Künstler-Ehepaar Bruno und Liesl Frank. Der Schriftsteller Bruno Frank, ebenfalls jüdischer Herkunft, spielte im literarischen Leben der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland eine wichtige Rolle. Zu seinen wichtigsten Werken aus der Münchener Zeit gehört die „Politische Novelle“ von 1928. Sie kreist um die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt inspiriert vom Treffen der Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann in Locarno 1925. In kürzester Zeit wurde das Buch in fünf Sprachen übersetzt.
Herzogpark-Exilanten in Kalifornien
Bruno und Elsa Walter flohen im März 1933 vor den Nationalsozialisten. Die beiden emigrierten zunächst nach Österreich, dann 1938 in die Schweiz und schließlich in die Vereinigten Staaten. Das Ehepaar Frank verließ München ebenfalls unmittelbar nach dem Berliner Reichstagsbrand im Februar 1933.
1935 kam es zu einem emotionalen Wiedersehen der drei Familien von Bruno Walter, Bruno Frank und Thomas Mann in Beverly Hills, USA. Die freundschaftliche Verbundenheit, die im Münchener Nobelviertel Bogenhausen begonnen hatte, fand im sonnigen Kalifornien unter unfreiwilligen Umständen eine Fortsetzung.
Wie ging es nach der Auswanderung weiter? Bruno Frank verstarb 1945 in Los Angeles, die Manns verließen 1952 die USA in Richtung Schweiz, Bruno Walter konnte seine musikalische Karriere in seiner neuen Heimat fortsetzen und wurde Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker.
Ortsgeschichte
CESifo: Eine Wachstumsgeschichte
Was ist für exzellente Forschung wichtig? Mit Sicherheit der wertvolle Austausch mit anderen Expert*innen im eigenen oder in verwandten Bereichen und die Möglichkeit, die wertvollen Ergebnisse nach außen zu kommunizieren. Diese und ähnliche Überlegungen gab es auch vor 25 Jahren. Einer Vision des ehemaligen ifo Präsidenten Hans-Werner Sinns ist es zu verdanken, dass Gedankenspiele zu einem der größten Forschungsnetzwerke der Wirtschaftswissenschaft reiften. Heute feiert CESifo Silberjubiläum — und wächst verlässlich weiter.
Geschichte von CESifo
Alle großen Dinge fangen klein an. Vor 25 Jahren galt der Standort München noch keineswegs als Hotspot von Wirtschaft und deren Erforschung. Disparate Gruppen von Wirtschaftswissenschaftler*innen besuchten das Zentrum für Wirtschaftsstudien (CES) an der LMU München, CES-Working Papers gewannen an Bedeutung und Masse – eine Entwicklung, die den früheren ifo-Präsidenten Hans-Werner Sinn inspirierte. So legten 230 Gastforscher*innen des CES, deren Veröffentlichungen und die Organisation von Forschungskonferenzen den Grundstein von CESifo. Noch heute führt das Netzwerk genau diese Elemente in seiner DNA.
Was ist CESifo heute?
Über 2 040 Ökonom*innen aus 46 Ländern, etwa 11 000 veröffentlichte Working Papers, über 800 Veranstaltungen mit über 40 000 Besucher*innen — und das alles in etwas mehr als zwei Jahrzehnten. CESifo hat sich zu einem globalen, unabhängigen Forschungsnetzwerk mit Mitgliedern aus der ganzen Welt entwickelt. Es vernetzt prominente Ökonom*innen mit einem breiten Spektrum an Spezialisierungen, von denen jeder jahrelange Erfahrung und ein hohes Maß an Expertise in die Forschungsbereiche einbringt. Die Mission ist es, den internationalen Wissensaustausch über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik voranzutreiben, die Zusammenarbeit zwischen dem ifo Institut und der LMU München zu stärken und München als lebendiges Zentrum der wirtschaftlichen Debatte in Europa zu erhalten. Sie wollen mehr über die Organisation und das Team hinter CESifo erfahren? Klicken Sie unten, und verschaffen Sie sich mit unserem Jubiläums-Video einen Eindruck über Ereignisse und Highlights aus dem Netzwerk und den Menschen, die CESifo ausmachen. Sie wollen mehr erfahren? Besuchen Sie das Netzwerk im Netz.
Netzwerk
Der Herzogpark: Geschichte des Ortes
Der Münchner Hauptsitz des ifo Instituts befindet sich in Bogenhausen, genauer im Herzogpark, eine der exklusivsten Wohnlagen der Stadt. Die intellektuell-künstlerische Vergangenheit dieses Ortes erwies sich als förderlicher Nährboden für ein international vernetztes wirtschaftswissenschaftliches Forschungszentrum.
Ein Stadtviertel entsteht
Der Herzogpark ist nach seinem ursprünglichen Besitzer Herzog Max in Bayern (1808-1888) benannt, Vater der späteren Kaiserin Elisabeth von Österreich, genannt Sisi. Sein Sohn, Erzherzog Karl Theodor, verkaufte das weitläufige Gelände entlang des östlichen Isarufers Anfang 1900 an die Terrain-Aktiengesellschaft Bogenhausen-Gern. Die ehemaligen Jagdgründe des Herzogs präsentierten sich damals noch als wilde, unberührte Natur, eine Ahnung davon vermittelt Thomas Manns Erzählung „Herr und Hund“. Erschlossen wurde das neue Baugebiet zunächst durch eine langgezogene Hauptstraße, die nach dem Passauer Erzbischof Friedrich Mauerkircher benannt wurde, später wurde die parallel verlaufende, nach einem bayerischen Adelsgeschlecht benannte Pienzenauerstraße angelegt. Während des Ersten Weltkriegs waren die Arbeiten unterbrochen, viele Grundstücke an den oft nach berühmten Dichtern von Gellert bis Stifter benannten Straßenzügen des Herzogparks lagen lange Zeit brach.
Intellektuelle und Künstler beleben den Ort
In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lebte im Herzogpark eine künstlerische und intellektuelle Community, die regen nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Austausch pflegte. Als einer der Ersten ließ sich Ludwig Freiherr von Gumppenberg-Pöttmes-Oberprennberg, Gründungsmitglied der Terraingesellschaft, im Herzogpark nieder, wo er ab 1906 in der Poschingerstraße 2 eine repräsentative Villa bewohnte. Der Schriftsteller Alfred von Heymel erwarb 1909 ein Grundstück gegenüber in der Poschingerstraße 5. 1907 kaufte der Privatgelehrte Robert Hallgarten in direkter Nachbarschaft das Grundstück Pienzenauerstraße 15, wo er ab 1910 mit seiner Frau, der Frauenrechtlerin und Pazifistin Constanze Hallgarten lebte. Im gleichen Jahr mietete Thomas Mann für seine sechsköpfige Familie zwei benachbarte Wohnungen in der Mauerkircherstraße 13. 1913 erwarb der Dirigent Bruno Walter eines der Drillingshäuser Mauerkircherstraße 43. Sein Nachbar in Nummer 41 wurde im gleichen Jahr der Historiker und Bismarck-Biograph Erich Marcks.
Das Gesetz der guten Nachbarschaft
Das Schauspielerehepaar Herta von Hagen und Gustl Waldau zogen in die Mauerkircherstraße 39. Ludwig Ritter von Zumbusch, Professor an der Akademie der Künste und insbesondere für seine Kinderporträts gefeierter Maler, bezog 1910 eine Villa des Architekten Otto Riemerschmid in der Schönbergstraße 9. In der Pienzenauerstraße 22 – 24 lebte seit 1913 der Dirigent Leopold Stokowski, ein guter Freund von Bruno Walter. 1914 zog Thomas Mann in die legendäre Villa Poschingerstraße 1. Ab 1926 vermietete Bruno Walter sein Haus an den Autor Bruno Frank, der dort mit seiner Frau Fritzi, der Tochter der gefeierten Sängerin und Schauspielerin Fritzi Massary, wohnte. Gute Nachbarschaft in kulturell anspruchsvollen Kreisen suchte der Bankier Otto Deutsch-Zeltmann, Buchliebhaber, Sammler und langjähriger Leiter der „Gesellschaft der Münchner Bücherfreunde“ sowie wichtiger Stifter der bibliophilen Maximiliansgesellschaft. 1922 bezog er seine Villa in der Vilshofener Straße 8. Einer der geistigen Gründerväter des ifo Instituts, Adolf Weber, bezog eine Wohnung in der Pienzenauerstraße 4, ein bis heute erhaltener Jugendstilbau in der Nähe des Kufsteiner Platzes. 1921 hatte er den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität München übernommen. Die von ihm initiierte „Volkswirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Bayern“ traf sich häufig in Webers „stillem Haus am Herzogpark“. Adolf Weber und seine Gäste, darunter Ludwig Erhard, entwickelten Ideen, die bis heute die Aktivitäten und Forschungsthemen des ifo Instituts prägen.
Ein Ort des geistigen Austauschs
Adolf Weber war es auch, der den Hinweis gab, dass das Haus in der Poschingerstraße 5 nach dem Krieg zum Verkauf stand. Ab 1952 arbeiteten hier die Mitarbeiter des ifo Instituts. Später bezogen sie auch Büros in den Drillingsvillen an der Mauerkircherstraße. Der geistige Raum, den die Nachbarschaft des Herzogparks von Anfang an gebildet hat, steht damit auch am Anfang der Erfolgsgeschichte des ifo Instituts. Die Häuser, in denen die Forscher des ifo Instituts arbeiten, atmen bis heute die geistige Lebendigkeit des Ortes und seiner ehemaligen Bewohner*innen.
Ortsgeschichte
Der ifo Schnelldienst: Geschichte eines Leitmediums
Ob konjunktureller Gradmesser, wissenschaftliches Aushängeschild oder Forum für kontroverse Debatten – der ifo Schnelldienst hat für wirtschaftspolitische Themen bundesweit Aufmerksamkeit geweckt wie nur wenige andere Publikationen. Bis heute ist er ein wichtiges Element in der Öffentlichkeitsarbeit des ifo Instituts.
Am Anfang war es Handarbeit
Als Herausgeber des ersten Hefts zeichnete die Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung. Sie gehörte damals zum Bayerischen Statistischen Landesamt und war in München in einer Polizeikaserne in der Rosenheimer Straße 130 untergebracht. Im Januar 1949 fusionierte die Informations- und Forschungsstelle mit dem Süddeutschen Institut für Wirtschaftsforschung zum Institut für Wirtschaftsforschung e. V. München – kurz ifo. Die Geschichte des ifo Schnelldiensts beginnt bereits sechs Monate vor der Gründung des ifo Instituts. Schon im Juli 1948 produzierten die Mitarbeitenden der Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung auf einem handbetriebenen Vervielfältigungsgerät die ersten Hefte des neuen Magazins: Seite für Seite. Als Erscheinungsdatum setzten sie den 20. Juli 1948 ein.
Am Puls der Nachkriegswirtschaft
Die Themen der ersten Ausgabe spiegeln die Hoffnungen der Nachkriegszeit: Dort finden sich etwa die Ergebnisse der ersten repräsentativen Umfrage bei Industrieunternehmen – der Beginn der ifo Konjunkturumfragen.
Daneben stehen aber auch datenbasierte Spekulationen über die plötzliche Warenfülle des Einzelhandels: War dies nur ein Abverkauf alter Lagerbestände, ein vorübergehender Effekt der Währungsreform oder kündigte sich schon wenige Jahre nach Kriegsende ein dauerhafter Wohlstand mit einem ungewohnt reichen Warenangebot an? Die Analyse aktueller Herausforderungen in Politik und Wirtschaft ist auch heute noch der Kern des ifo Schnelldiensts – sein Themenspektrum hat sich in viele Richtungen erweitert.
Redaktionsleitung war Chefsache
Die Bedeutung des ifo Schnelldiensts für das Institut lässt sich schon daran ablesen, dass mit Eduard Werlé ein Vorstandsmitglied die Redaktionsleitung übernahm. Der ifo Schnelldienst war das wichtigste Instrument der ifo-Öffentlichkeitsarbeit; seit 1999, als die zunächst vierteljährlich, ab 1974 in monatlichem Rhythmus erscheinende Wirtschaftskonjunktur eingestellt wurde, gilt er auch als Leitmedium des Instituts. Zunächst sollte der ifo Schnelldienst ausschließlich der Presse „die wichtigsten Ergebnisse unserer Arbeit“ präsentieren – und zwar gegen Honorar.
Heißbegehrte Informationen
Ursprünglich ergänzte der ifo Schnelldienst die Hefte der Wirtschaftskonjunktur. Zur eindeutigen Abgrenzung trug er den Untertitel „Wöchentlicher Kurzbericht zur Wirtschaftskonjunktur“. Alle sieben Tage landeten die – zunächst weiter handgedruckten – Hefte auf den Schreibtischen der Wirtschaftsredaktionen und bei allen Mitgliedern des ifo-Vereins: bei Ministerien, Universitäten, Unternehmen und Verbänden. Schon bald galt der ifo Schnelldienst auch in der Öffentlichkeit als eine der wichtigsten Informationsquellen zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland und der Welt. Es dauerte aber noch rund zwei Jahre, bis das Institut von dem handbetriebenen Vervielfältigungsgerät zu einer moderneren Offset-Druckmaschine wechselte, bevor man 1952 mit dem Aufbau einer eigenen Hausdruckerei begann.
Plattform für das Geschäftsklima
1954 führte die Redaktion feste Rubriken ein: das Bild der Woche, ifo-Hinweise, Kurzkommentare, Beiträge zur Wirtschaftslage, Kurzberichte zur Wirtschaftskonjunktur und Thesen zur Wirtschaftslage. Außerdem stand das Abonnement nun allen wirtschaftlich Interessierten offen. Auch unter den Mitarbeiter*innen des Instituts war bald klar: Wer etwas zu sagen hat, publiziert im ifo Schnelldienst. Schon in den Jahren 1970-1976 waren es durchschnittlich 136 Beiträge aus ifo-Kreisen pro Jahr.
Wie die Wirtschaftskonjunktur dokumentierte der ifo Schnelldienst nicht nur zentrale wirtschaftspolitische Themen in der Geschichte der Bundesrepublik wie die Hartz-Reformen, die EU-Osterweiterung oder die Eurokrise, sondern auch wichtige Etappen in der Geschichte des Instituts: So feierte auch der heute wohl allen Nachrichten- und Wirtschafts-Journalist*innen geläufige ifo Geschäftsklimaindex seine Premiere im ifo Schnelldienst – wenn auch eher unauffällig. Eine dreizeilige Tabelle zeigte in der Ausgabe 12/1971 den Verlauf des Index von Januar 1970 bis Februar 1971.
Ein Ort für Debatten
Bis Ende der 1990er Jahre blieb der ifo Schnelldienst seinem redaktionellen Auftrag weitgehend unverändert treu. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich das Erscheinungsbild gewandelt und der Erscheinungsrhythmus wurde angepasst. Dann aber ordnete der Vorstand die Publikationen des Instituts neu – und definierte den ifo Schnelldienst als neues Leitmedium, in das er die Wirtschaftskonjunktur integrierte.
Nun öffnete sich der ifo Schnelldienst nicht nur für Beiträge externer Autor*innen, sondern entwickelte sich mit der neuen Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ weiter zu einem Debattenmedium. Seit 2020 konzentriert man sich in dieser Rubrik auf Themen, die das ifo Instituts fachlich besetzt. Damit wird die Sichtbarkeit der ifo-Forschenden verbessert – das thematische Spektrum verteilt sich zudem auf mehrere Schultern und korrespondiert mit der neuen Kommunikationsstrategie des ifo Instituts. Im gleichen Jahr wurde der ifo Schnelldienst digital eingeführt. In dieser reinen Online-Zeitschrift werden Artikel außerhalb des monatlichen Erscheinungstermins des ifo Schnelldiensts publiziert.
Veröffentlichung
Aus der Traum: Als die Dotcom-Blase platzte
Auf dem Aktienmarkt herrscht 1999 Euphorie: Der Nemax 50 wird zum ersten Mal an der Frankfurter Börse notiert als Index des sogenannten Neuen Markts. Der neue Markt hatte eine große Anziehungskraft. Der Traum vom schnellen Geld lockte viele Anleger. Sie hofften, das eigene Vermögen durch Kursgewinne über Nacht zu vermehren. Die Phantasie der Börsianer wurde beflügelt von den technologischen Möglichkeiten, die mobile Kommunikation und das Internet boten.
Neue Chancen, ignorierte Risiken
Weit verbreitet war die Überzeugung, der von der Digitalisierung getriebene Innovationsschub würde die Abfolge der Konjunkturzyklen außer Kraft setzen. Angesichts immer höherer Produktivitätsgewinne käme es in Zukunft zu keiner Rezession mehr. So zumindest lautete der Plan.
Und tatsächlich konnte Deutschland gegen Ende der 1990er Jahre eine bemerkenswerte Zunahme an Firmengründungen verzeichnen. Fast jede Geschäftsidee, die irgendetwas mit New Media oder Internet zu tun hatte, wurde umgesetzt, befeuert durch Investoren und Kapitalgesellschaften, die erhebliche Geldmengen in diese neuen Unternehmen pumpten. Die Aussicht auf schnelles Wachstum schaltete alle vernünftige Skepsis aus.
Deutschland im Gründerrausch
Vorbild für den deutschen Nemax war der US-amerikanische Nasdaq, der auf der anderen Seite des Atlantiks Rekordgewinne verzeichnete. Zunächst erfüllten sich die in den neuen Index gesetzten Hoffnungen auch: Der Nemax 50 kletterte am 10. März 2000 auf 9 631,53 Punkte, das sollte sein Höchststand bleiben.
Rund 300 000 „innovative, unternehmensnahe Dienstleistungsunternehmen" registrierte die regierungsamtliche Statistik in Deutschland um die Jahrtausendwende. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch neu entstandene Infrastruktur wie schnelles Internet sowie die dazugehörige Soft- und Hardware. Viele dieser Neugründungen setzten einfach auf die digitale Transformation von Geschäftsmodellen der "Old Economy".
Die Dotcom-Blase platzte
Kritiker*innen dieser Euphorie wurden selten ernst genommen. Börsen-Guru André Kostolany etwa warnte schon 1998 in der NDR-Talkshow, bei der New Economy handele es sich um einen „Betrug mit gezinkten Karten und Falschspielern”. Die optimistischen Bewertungen der Dotcom-Firmen, die ihre Kurse nach oben trieben, seien nicht durch solide betriebswirtschaftliche Fakten gedeckt. Diese Vermutung erwies sich am Ende auch als richtig. Der Nemax erlebte einen beispiellosen Absturz. Im Jahr 2000 waren die am Neuen Markt notierten Unternehmen 235 Mrd. Euro wert, zwei Jahre später waren es nicht einmal mehr 30 Mrd. Euro. Was war passiert? Den kühnen Wachstumsplänen der Unternehmen folgte keine ökonomische Performance.
Ein Kartenhaus von Börsenphantasien
Beispielhaft hier der Fall von Daniel David, der als Schlagersänger nur mäßig erfolgreich war und sein Glück als Unternehmer suchte: Am Tag der totalen Sonnenfinsternis, dem 11. August 1999, ging seine Firma Gigabell an die Börse. Auf der Premierenparty verkündete der Firmengründer: „Wenn die Gigabell ihr Debüt am Neuen Markt feiert, geht die Sonne gleich zweimal auf.“ Das Unternehmen war ein schlichter Internetprovider und machte von Beginn an Verluste. Es erreichte trotzdem einen Wert von 800 Mio. Euro an der Börse. Doch die Gewinne bleiben aus. Im November 2000 war Gigabell insolvent und wurde als erstes Unternehmen aus dem Neuen Markt ausgeschlossen. Andere Unternehmen bedienten sich betrügerischer Machenschaften, Bilanztricksereien und falscher Ad-hoc Meldungen, um den Schein eine Zeit lang aufrecht zu erhalten.
So führten nicht nur in Deutschland solche und ähnliche fehlgeschlagene Businesspläne hochgejubelte Firmen in die Pleite – und zwar in einer Geschwindigkeit, die vor allem unerfahrene Anleger*innen überrumpelte. Viele von ihnen versäumten die Gelegenheit, ihre Aktien rechtzeitig zu veräußern und mussten teils erhebliche Verluste verschmerzen. Auch der amerikanische Nasdaq stürzte von 5 048 Punkten am 10. März 2000 auf 1 114 Punkte am 9. Oktober 2002 ab.
Was bleibt: Der Innovationsschub
Der Börsencrash vernichtete eine Reihe von Unternehmen und beträchtliches Anlegervermögen. Doch auf lange Sicht gesehen haben sich Internet und Digitalisierung nicht aufhalten lassen. Nicht nur Global Player wie Google, Apple, Facebook oder Amazon verzeichnen gigantische Umsätze. Die Unternehmen der New Economy haben unser privates und berufliches Leben grundlegend verändert.
Meilenstein
Die Anfänge des ifo Instituts
Das ifo Institut entstand aus dem Zusammenschluss zweier Forschungsinstitute. Im Januar 1949 vereinigten sich das Süddeutsche Institut für Wirtschaftsforschung und die Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung zum Institut für Wirtschaftsforschung e. V. München – kurz ifo. Wie kam es zu dieser Fusion? Werfen wir einen Blick auf die komplexe Vorgeschichte der Gründung.
Praktische Wirtschaftsforschung von Anfang an
„Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“ – so der Name der Einrichtung an der Handelshochschule in Nürnberg, an der Ludwig Erhard 1928 eine Assistentenstelle antrat. Dieses Institut war 1925 von Wilhelm Vershofen als eines der beiden ersten Institute für praktische Wirtschaftsforschung in Deutschland gegründet worden, im gleichen Jahr wie das Institut für Konjunkturforschung IfK in Berlin, heute Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW.
Erhard fand hier einen Ort, an dem er sich beruflich weiterentwickeln konnte. Er war maßgeblich am Ausbau des Instituts und an dessen Erfolg vor allem im Bereich der Industriemarktforschung beteiligt. Als ihm die Nachfolge an der Spitze des Instituts verwehrt wurde, parierte er diesen beruflichen Rückschlag 1942 mit der Gründung eines eigenen Instituts für Industrieforschung.
Als erster an der richtigen Stelle – die politische Karriere
Schon gleich nach dem Einmarsch der US-Truppen in seiner Heimatstadt Fürth am 19. April 1945 stellte sich Erhard bei der amerikanischen Militärbehörde als Ökonom vor und bot seine Dienste an. Am 22. Oktober 1945 wurde er vom amerikanischen Militärgouverneur zum Minister für Handel und Gewerbe in der Bayerischen Staatsregierung ernannt.
1947 leitete er die Expertenkommission der Verwaltung der Finanzen der britisch-amerikanischen Bizone und war in dieser Funktion mit der Vorbereitung der Währungsreform betraut. Im März 1948 ernannte ihn die britisch-amerikanische Militärregierung in Frankfurt zum Direktor des Wirtschaftsrats der Bizone. Damit verantwortete er die Wirtschaftspolitik der westlichen Besatzungszonen – der direkte Weg zur politischen Karriere als erster Wirtschaftsminister der Adenauer-Regierung.
Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis
Das von Erhard 1942 gegründete „Institut für Industrieforschung“ wurde zum „Institut für Wirtschaftsbeobachtung und Wirtschaftsberatung“ (seit 1946) und 1947 zum „Süddeutschen Institut für Wirtschaftsforschung". Erhard sah die außeruniversitäre Wirtschaftsforschung als bedeutenden Akteur bei der Gestaltung einer der neuen Wirtschaftsordnung für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Er verwendete schon bald die Metapher der „Brücke", die ein Wirtschaftsforschungsinstitut zwischen der universitären Wirtschaftsforschung einerseits und der staatlichen und wirtschaftlichen Praxis andererseits schlagen müsse. Dabei sollte die Arbeit eines solchen „Brücken-Instituts“ nach Erhards Überzeugung strikt überparteilich und wissenschaftlich ausgerichtet sein – möglichst mit direkter Anbindung an die universitäre Forschung.
Ein steiniger Weg
Die Entwicklung des Süddeutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geriet nach 1947 ins Stocken, weil finanzielle Mittel zum weiteren Ausbau der Forschungskapazitäten fehlten. Erhard und seine Mitstreiter hatten sich auf privatwirtschaftliche Unterstützung verlassen, aber ohne öffentliche Mittel war die Zukunft des Instituts ungewiss.
Um öffentliche Unterstützung bewarb sich 1947 gleichzeitig eine weitere, dem Bayerischen Statistischen Landesamt assoziierte Einrichtung zur Wirtschaftsbeobachtung. Gegründet wurde sie von Karl Wagner, promovierter Nationalökonom, Statistiker und Leiter des Landesamts. Gemeinsam mit Hans Langelütke baute Wagner im Landesamt die Informationsdienstleistungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeobachtung seit April 1948 weiter aus, um sie dann in der „Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung" (ifo) zu bündeln. Unmittelbar nach der Währungsreform wurden erstmals Unternehmensbefragungen durchgeführt und 1948 erschien hier die erste Ausgabe des „Ifo-Schnelldienst".
Die Geburtsstunde des ifo Instituts
Voraussetzung für die öffentliche Finanzierung beider Institute war nach dem Willen der bayerischen Staatsregierung deren Zusammenschluss. So einigten sich die Mitglieder am 24. Januar 1949 auf die Gründung des gemeinsamen Instituts für Wirtschaftsforschung e. V. München, Kurzbezeichnung „ifo Institut".
Das neue Institut nahm seine Arbeit am 1. März 1949 und konnte mit drei Fachabteilungen – einer volkswirtschaftlichen, einer branchenwirtschaftlichen und einer betriebswirtschaftlichen – an den Start gehen.
Das Bayerische Statistische Landesamt stellte dem Institut als Zwischenlösung einige Räume in den Gebäuden in der Rosenheimer Straße 130 – einer früheren, teilweise zerbombten Polizeikaserne – zur Verfügung. Der größte Teil des Personals wurde in zwei Holzbaracken auf dem ehemaligen Exerzierplatz der Kaserne untergebracht. Trotz dieser widrigen Arbeitsbedingungen erlangte das ifo Institut schon bald eine herausragende Stellung in der angewandten Wirtschaftsforschung.
Anfänge
Personen
Die EWG: Auf dem Weg zur europäischen Integration
Der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas war von Anfang mit der Wiederbelebung des europäischen Einigungsgedankens verbunden. Frankreich, Deutschland, Italien und die Beneluxstaaten schufen mit der Gründung der Montanunion 1951 einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl. Dies war ein erster Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum und zur Gründung der EWG im Jahr 1957. Der gesamte Prozess wurde eng von den Analysen des ifo Instituts begleitet.
Scheitern der Verteidigungsgemeinschaft
Dass es sehr viel größere Hindernisse zu überwinden galt, um nicht nur wirtschaftliche, sondern auch militärische und politische Interessen zu bündeln, zeigte 1954 das Scheitern der Verträge zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) am Veto der Französischen Nationalversammlung. 1955 gelang es, den ins Stocken geratenen Einigungsprozess wieder anzustoßen, indem man sich auf eine Kooperation auf wirtschaftlichem Gebiet auf der Grundlage der Montanunion konzentrierte.
Verhandlungen der Montanunion
Auf der Konferenz von Messina kamen 1955 die Mitglieder der Montanunion erstmals wieder seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zusammen und verhandelten über eine neue Wirtschaftsgemeinschaft. Federführend war der französische Außenminister Jean Monnet, dessen Vorschläge für eine wirtschaftliche Einigung der Volkswirtschaften die Verhandlungen angestoßen hatten. Ein wichtiger Aspekt war von Anfang an die Zusammenarbeit auf dem Nuklearsektor, da die Verhandlungspartner in der friedlichen Nutzung der Atomenergie einen besonderen Ausdruck für das gemeinsame Streben nach Fortschritt sahen.
Die „Spaak-Kommission“
Eine nach dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak benannte Regierungskommission erarbeitete Empfehlungen, auf deren Grundlage die Regelungen für einen gemeinsamen Markt beschlossen wurden. Dazu zählte der Abbau der Hindernisse für den europäischen Waren- und Dienstleistungsverkehr durch den Wegfall von Zollschranken und Kontingentierungen, die Freizügigkeit für den Dienstleistungs-, Personen und Kapitalverkehr, ein gemeinsamer Agrarmarkt, eine europäische Handelspolitik, Zollschranken an den europäischen Außengrenzen und die Schaffung gemeinsamer Institutionen.
Der Startschuss in Rom
Am 25. März 1957 einigten sich die sechs Staaten auf die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM und unterzeichneten in Rom die notwendigen Verträge. Ein Durchbruch für Europa, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht, wie Konrad Adenauer meinte: „Der Gemeinsame Markt muß betrachtet werden nicht in erster Linie als ein wirtschaftlicher Vertrag, sondern als ein politisches Instrument. Er muß im Zusammenhang betrachtet werden mit dem Europarat, der Montanunion und EURATOM, kurz und gut, es handelt sich hier um eine Reihe von politischen Fakten. Die EWG ist in der Hauptsache ein politischer Vertrag, der bezweckt, auf dem Wege über die Gemeinsamkeit der Wirtschaft zu einer politischen Integration Europas zu kommen.“ Die Römischen Verträge traten am 1. Januar 1958 in Kraft.
Das ifo und die EWG
Der Einigungsprozess wurde von Anfang an im ifo Schnelldienst kommentiert. Man fokussierte zunächst auf einzelne Aspekte der europäischen Zusammenarbeit, wie die Erzeugung von Fleisch im Gebiet der neuen EWG (ifo Schnelldienst vom 26. September 1957). Seit 1961 weitete sich der Blick. Als die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EWG neben der Vereinheitlichung der amtlichen Statistiken auch eine konjunkturtestähnliche Unternehmensbefragung der Industrie in der EWG einführen wollte, wurde das ifo Institut in München mit der Durchführung dieser Tests im westdeutschen Raum beauftragt. In enger Anlehnung an die ifo Tendenzbefragungen erschien seit Frühjahr 1962 monatlich der Europäische Konjunkturtest, der an etwa 14.000 Industriebetrieben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchgeführt wurde. Etwas später kam eine jährliche Investitionsbefragung dazu. Seit 1963 wurden die Ergebnisse beider Befragungen im Schnelldienst regelmäßig veröffentlicht.
Kritische Stimme aus München
Der weit verbreiteten Meinung, dass nach der Gründung der EWG die Mitgliedstaaten einen wirtschaftlichen Aufschwung erwarten durften, steht das ifo Institut in seinen Berichten eher skeptisch gegenüber. „Gibt es schon einen EWG-Mythos?“ fragt der Schnelldienst am 24. Mai 1963 und erklärt, dass das wirtschaftliche Wachstum im statistischen Durchschnitt der EWG-Staatengruppe keineswegs dem Zusammenschluss zu verdanken sei. Zwar habe die wirtschaftliche Integration zu diesem Wachstum beigetragen, den Ausschlag aber habe die Wachstumskraft einzelner Länder – vor allem Frankreichs, Italiens und der Bundesrepublik – gegeben. Der Einspruch des ifo gegen eine vor allem in der Politik verbreitete generell positive Einschätzung der Wirkungskraft der neuen Wirtschaftsgemeinschaft basierte auf eigenen Erhebungen des Instituts, das sich hier mit faktenbasierten Argumenten in die öffentliche Debatte einmischt. Noch heute sind die Entwicklungen und Politikentscheidungen in der EU ein strategisch wichtiges Feld für das ifo Institut und für die politische Plattform EconPol.
Meilenstein
Die Finanzkrise: Der Kollaps von 2008
Die internationale Finanzkrise von 2008 entstand aus einer nationalen Immobilienkrise in den USA. Jahrelang waren dort die Preise für Immobilien gestiegen, während sich die Zinsen auf niedrigem Niveau bewegten. US-amerikanische Banken vergaben riskante Kredite an Privathaushalte, wodurch die Nachfrage immer weiter angeheizt wurde. Als die Kreditzinsen stiegen, weil die amerikanische Zentralbank Fed die Leitzinsen erhöhte, platzte die Blase. Wegen ausfallender Zahlungen gerieten Banken in eine Liquiditätskrise, die binnen kurzer Zeit das internationale Finanzsystem sowie weite Bereiche der Realwirtschaft erfasste.
Ansteckung durch Subprime-Kredite
1990 bis 2006 erfuhr der US-Immobilienmarkt einen beispiellosen Boom. Ende 2005 stieg die Inflation. Um gegenzusteuern, hob die US-Notenbank die Zinsen an. Innerhalb kurzer Zeit war ein Überangebot an Immobilien auf dem US-Markt, weil einkommensschwache Haushalte, deren Verträge variable Verzinsung vorsah, ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten. Die nicht genügend besicherten Kredite ("subprime loans") lagen in den Bilanzen vieler Banken und hatten sich weltweit im Finanzsystem verbreitet. Durch den Preissturz an den US-Immobilienmärkten verloren diese Assets dramatisch an Wert und das Finanzsystem kollabierte.
Bailouts und die Lehman Insolvenz
Die US-Investmentbank Lehman Brothers wurde zum Sinnbild der Finanzkrise. Nachdem die Bush-Regierung und die FED bereits drei große Finanzdienstleister gerettet hatten (Bear Stearns, Freddie Mac, Fannie Mae), wurde entschieden, Lehman nicht zu stützen. Ein Käufer fand sich nicht, Lehmann ging in die Insolvenz. Kurze Zeit später geriet auch das Versicherungsunternehmen American International Group (AIG) in Turbulenzen. Um einen vollständigen Kollaps der Finanzwirtschaft zu verhindern, stuften Fed und Finanzministerium die AIG als systemrelevant ein und retteten den Konzern. Außerdem musste die amerikanische Regierung ein Hilfspaket mit Garantien in Höhe von 700 Mrd. US-Dollar auf den Weg bringen, um eine Katastrophe zu verhindern.
Die Krise wird zum Flächenbrand. Im Oktober 2008 verkündete Island als erstes Land den Staatsbankrott. Einen Monat später einigten sich die G-20-Staaten in Washington auf gemeinsame Maßnahmen zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise und auf eine grundlegende Reform der Finanzmärkte. Im April 2009 wurde auf einem G-20-Gipfel in London die stärkere Kontrolle von Finanzinstituten beschlossen, um Auswüchse zu verhindern, wie sie 2007 zur Hypothekenkrise geführt hatten.
Deutsche Steuergelder für Bankenrettung
In Deutschland garantierte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück den Bürger*innen die Sicherheit ihrer Spareinlagen. Mit Hilfe von Milliardenzuschüssen rettete die Bundesregierung die Hypo Real Estate Bank vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Finanzminister der EU verständigten sich darauf, sogenannte systemrelevante Finanzinstitute mit Geldern der Gemeinschaft vor dem Untergang zu bewahren. Am 18. Oktober 2008 verabschiedete der Bundestag das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG). Der Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) verfügte über 480 Mrd. Euro, um Banken wieder die Erfüllung von Verbindlichkeiten und den Wiederaufbau von Liquidität zu ermöglichen. Als erste Banken nahmen nach der Hypo Real Estate die Bayerische Landesbank, die HSH Nordbank sowie die Commerzbank diesen Fonds in Anspruch.
ifo Standpunkt zur Risikoverteilung
Die Finanzkrise von 2008 schürte Ängste, gierige Spekulanten könnten die Weltwirtschaft mit waghalsigen Aktionen in den Abgrund reißen. Hans-Werner Sinn, 1998 bis 2016 Präsident des ifo Instituts, präsentierte 2009 in seinem Buch „Kasino-Kapitalismus“ auf wissenschaftlicher Grundlage eine differenziertere Position. Er sieht in der Risikobereitschaft zunächst einmal den Motor für Innovation und gesellschaftliche Entwicklung. Risiken sind erst dann kritisch zu betrachten, wenn sie auf Dritte ausgelagert werden. Wenn man die Folgen auf andere Kapitalgeber abwälzen kann, ist die Versuchung groß, extreme finanzielle Risiken einzugehen. Solange Gewinne fließen, wird sich niemand beschweren. Wendet sich aber das Blatt, muss der Staat marode Banken vor dem Ruin bewahren – auf Kosten der Steuerzahlenden.
Meilenstein
Die Wiedervereinigung und ihre wirtschaftlichen Folgen
„Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Das versprach Bundeskanzler Helmut Kohl 1990. Doch auch 30 Jahre nach dem Mauerfall lag die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands deutlich unter Westniveau. Die Niederlassung Dresden des ifo Instituts begleitet den Strukturwandel seit 1993.
Die wirtschaftliche Wiedervereinigung
Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 wurde im Juli 1990 der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unterzeichnet. Dieser bildete die Grundlage für die ökonomische Zusammenführung Deutschlands. Die D-Mark war nun offizielles Zahlungsmittel im ganzen Land, die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft galten auch in den neuen Bundesländern. Diese umfassende Integration setzte die ostdeutschen Betriebe unter enormen Anpassungsdruck. Der Treuhandanstalt wurde die Aufgabe übertragen, über 12 000 volkseigene Betriebe zu privatisieren. Bei etwa 3 000 Unternehmen gelang ihr das nicht, sie wurden stillgelegt. Um eine drohende Wirtschaftskrise abzuwenden, beschloss die Bundesregierung 1991 das Förderprogramm „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“. Außerdem wurde neben anderen Steuererhöhungen der Solidaritätszuschlag auf die Lohn- und Einkommensteuer eingeführt.
Enorme Fortschritte
Die ostdeutsche Wirtschaft war Ende der 1980er Jahre nicht konkurrenzfähig. Der Umtauschkurs der Mark der DDR zur D-Mark war überhöht. Von heute auf morgen war in den ostdeutschen Ländern westdeutsches Recht eingeführt worden. Unter diesem Druck kollabierte die ohnehin schon angeschlagene DDR-Wirtschaft 1990 nahezu vollständig und musste von Grund auf neu aufgestellt werden. „Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands in den ersten Jahrzehnten nach der Vereinigung, so sind die Fortschritte enorm", meint Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden.
Durch den Geburtenrückgang nach der Vereinigung und die massive Abwanderung aus Ostdeutschland hatte sich die dortige Bevölkerung seit 1991 um mehr als 2 Mio. Menschen verringert. Dadurch war die Zahl der erwerbsfähigen Einwohner*innen deutlich gesunken – um mehr als 10%. Die Arbeitslosenquote – lange Zeit lag sie um die 20% – betrug 2018 im Durchschnitt nur noch 7,6%, Ende 2023 bei 7,1%. 2018 war die Wirtschaftskraft um 127% gestiegen, die realen verfügbaren Einkommen immerhin um 62%, und auch die Zahl der Arbeitsplätze je Einwohner im erwerbsfähigen Alter, lag inzwischen wieder über dem Niveau des Jahres 1991.
Vergleich mit dem Westen
Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern verglichen ihre Lage mit dem Westen und waren mit dem Erreichten nicht zufrieden. Die Wirtschaftskraft (gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) lag im Schnitt bei nur knapp 80% des westdeutschen Durchschnittsniveaus, die Löhne ebenfalls. Real hatte das verfügbare Einkommen knapp zu den westdeutschen Bundesländern Bremen und Saarland aufgeschlossen.
„In der öffentlichen Wahrnehmung sind es vor allem vermeintliche Ungerechtigkeiten in der Bezahlung, die für Unmut sorgen", sagt Joachim Ragnitz. Tatsächlich lagen die Medianlöhne (mittleres Einkommen) der Vollzeitbeschäftigten in Ostdeutschland im Jahr 2018 nur bei 79% der westdeutschen Löhne. Dieser Unterschied war aber auch durch weiterhin erhebliche Systemunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zu erklären: So arbeitete ein etwas größerer Teil der ostdeutschen Beschäftigten in Branchen, die typischerweise ein unterdurchschnittliches Lohnniveau aufwiesen (38,1% im Westen, 42,9% im Osten). Auch die geringere Zahl größerer Unternehmen drückte das durchschnittliche Lohnniveau, da kleinere Betriebe typischerweise auch niedrigere Löhne zahlen.
Politik gegen strukturelle Defizite
30 Jahre nach dem Mauerfall hatte Ostdeutschland die Wirtschaftskraft Westdeutschlands Mitte der 1980er Jahre erreicht. Der Aufholprozess des Ostens wurde weiterhin durch strukturelle Defizite gebremst: weniger Großunternehmen, weniger Unternehmenshauptsitze in Ostdeutschland, weniger qualifizierte Fachkräfte, weniger Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. „Aber angesichts dieser Nachteile Ostdeutschlands im Standortwettbewerb ... ist es eher bemerkenswert, dass Ostdeutschland in den vergangenen Jahren überhaupt mit der Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland hat mithalten können und nicht weiter zurückgefallen ist", erklärt Joachim Ragnitz. „Die allgemeine Stimmung scheint also deutlich schlechter als die individuelle Lage – die Politik wäre deshalb gut beraten, sich nicht zu sehr von (vermeintlichen oder offen artikulierten) Stimmungen leiten zu lassen."
Meilenstein
Gebremster Abschwung – Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
Nach den Wirtschaftswunderjahren machten sich in der Bundesrepublik zum ersten Mal deutliche Zeichen einer Rezession bemerkbar. Deshalb verabschiedete der Deutsche Bundestag am 10. Mai 1967 mit großer Mehrheit das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“. Die Bundesregierung wollte vier große Ziele erreichen: Vollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum – das sogenannte „magische Viereck". Das ifo Institut unterfüttert die Maßnahmen laufend mit aktuellen Daten.
Die erste Wirtschaftskrise der BRD
Zwischen Herbst 1966 und Sommer 1967 erlebte die Bundesrepublik die erste spürbare Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenquote stieg von 0,7 auf 2,1%. Es gab einen Preisauftrieb, während die Löhne nur wenig stiegen. Die Haushaltslage war prekär, der Abbau von Subventionen und Einschnitte in der Sozialpolitik schienen unvermeidbar. Politische Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung des Bundeshaushalts führten im Oktober 1966 zum Ende der christlich-liberalen Regierung unter Ludwig Erhard. Nach dem Rücktritt Erhards am 30. November übernahm am 1. Dezember 1966 zum ersten Mal eine Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Regierungsverantwortung.
Neue Regierung. Neue Wirtschaftspolitik
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) präsentierte am 13. Dezember 1966 in seiner Regierungserklärung das Programm einer expansiven und stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik. Mit Hilfe von Konjunkturprogrammen und des Stabilitätsgesetzes sollte die Wirtschaftskrise effektiv bekämpft werden. Der neue Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) verschrieb sich einer sogenannten „aufgeklärten Marktwirtschaft“, einer Kombination von Wettbewerb und staatlicher Lenkung. Diese von der Regierung gesteuerte Wirtschaftspolitik stand im Gegensatz zu Ludwig Erhard, der eine freie Marktwirtschaft ohne staatliche Eingriffe vertreten hatte. Die Basis für ein erstes Konjunkturprogramm legte der Bundestag bereits am 23. Februar 1967 mit dem Kreditfinanzierungsgesetz. Es umfasste ein Volumen von 2,5 Mrd. DM. Davon waren 850 Mio. DM für Sofortmaßnahmen reserviert – unter anderem bei der Deutschen Bundesbahn, bei der Deutschen Bundespost und im Straßenbau. Für die dafür benötigten Kredite war eine gesetzliche Ermächtigung notwendig. Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß (CSU) hatte das dafür nötige Kreditfinanzierungsgesetz auf den Weg gebracht. Parallel senkte die Bundesbank die Leitzinsen.
Das ifo evaluiert laufend die Maßnahmen
Bereits einen Tag, nachdem das Kreditfinanzierungsgesetz den Bundestag passiert hatte, fasste der ifo Schnelldienst vom 24. Februar 1967 in seinen „Konjunktur-Perspektiven“ die Lage zusammen: „Die von der Bundesregierung beschlossenen Konjunkturmaßnahmen und die von der Senkung der Bankrate und der Mindestreservesätze auf den Kapitalmarkt ausgehenden Einflüsse lassen noch in diesem Jahr eine Belebung der Investitionstätigkeit erwarten.“
Die vom ifo Institut am 17. März 1967 zusammengestellten Daten des ifo Konjunkturtests, der GfK-Verbraucherbefragung und des Statistischen Bundesamts (BIP) zeigen, dass es noch zu früh war, von einem dauerhaften Stimmungsumschwung zu sprechen. Auch der im Schnelldienst vom 16. Juni 1967 abgedruckte Vortrag von ifo-Vorstandsmitglied Herbert Hahn erklärt lediglich „Die derzeitige konjunkturelle Problematik“. Erst in den letzten Monaten des Jahres 1967 bessern sich, wie von der Politik beabsichtigt, die wirtschaftlichen Aussichten. Der ifo Schnelldienst meldet umgehend diese Veränderung: „Die Nachfrage nach Investitionsgütern stark belebt“ heißt es im November und schließlich, nach Auswertung des Geschäftsklimas im November und Dezember, im letzten Heft des Jahres: „Zum Jahresende 1967 wird die konjunkturelle Situation von der verarbeitenden Industrie wieder überwiegend positiv beurteilt.“
„Ein Tisch auf vier Beinen"
Das Stabilitätsgesetz schreibt vor, dass die Bundesregierung jährlich einen Wirtschaftsbericht vorlegt, der als Grundlage des staatlichen Handelns dient. Außerdem muss alle zwei Jahre ein Subventionsbericht die Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen offenlegen. Mit dem Gesetz erreiche man „den Übergang von einer konventionellen Marktwirtschaft zu einer aufgeklärten Marktwirtschaft“, erklärte Wirtschaftsminister Schiller. „Dieses Gesetz im Ganzen ist jetzt nicht mehr ein Tisch, der auf zwei Beinen ruht, sondern es ist ein Tisch, der voll auf vier Beinen steht.“ Die Politik orientiere sich an der rationalen Einsehbarkeit und der rationalen Zusammenarbeit mündiger Menschen, erklärte Schiller.
Gesetz mit Langzeitwirkung
Im Gegensatz zum schwarz-gelben Regierungsentwurf sollte die neue Bundesregierung – und alle folgenden Bundesregierungen – nicht nur eine solide, sondern auch eine konjunkturgerechte Haushaltspolitik verfolgen. Wenn es die Umstände erforderten, stünden dem Bundeskabinett die gesetzlichen Möglichkeiten zur Verfügung, die Wirtschaft je nach konjunkturellen Rahmenbedingungen mit staatlichen Maßnahmen zu belasten oder zu entlasten. Bis zum Ende der Legislaturperiode 1969 ging die Arbeitslosigkeit auf 0,9% zurück. 1970 verzeichnete die Arbeitslosigkeit mit 0,7% noch einmal einen Tiefstwert nahe der Vollbeschäftigung. Aber schon die Ölkrise 1973 zeigte die Grenzen staatlicher Wirtschaftslenkung auf. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte explodierte, auf die Bildung der Konjunkturausgleichsrücklage musste verzichtet werden.
Seit Inkrafttreten des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes wird mitunter heftig darüber debattiert, wann und in welcher Form die Regierung Maßnahmen einleiten soll, um die Wirtschaft zu lenken. Bei allen unterschiedlichen Standpunkten quer durch alle politischen Parteien: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gilt bis heute.
Meilenstein
Gegen Altersarmut — Die Rentenreform von 1957
An einer großen Bevölkerungsgruppe ging das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre weitgehend vorbei: an den 4,5 Mio. Rentner*innen. 1957 sah Konrad Adenauer angesichts der anstehende Bundestagswahl die Chance, mit einer umfassenden Rentenreform eine bisher benachteiligte Generation für seine Politik zu gewinnen. Dass der solidarische Generationenvertrag, Kern dieser Reform, bei sinkenden Geburtenzahlen die Politik vor gewaltige Finanzierungsprobleme stellen und eine Art versteckter Staatsverschuldung aufbauen würde, wurde von den Gegnern der Reform zwar vorgebracht, doch Adenauer soll diese Bedenken mit den Worten „Kinder kriegen die Leute immer“ aus dem Weg geräumt haben. Das ifo Institut beteiligte sich seit der ersten Rentendebatte 1956 bis heute an dieser Diskussion.
Reform tut not
Als Teil der Bismarckschen Sozialgesetzgebung wurde 1889 das Gesetz zur Invaliden- und Altersversicherung eingeführt. Im Alter oder bei Berufsunfähigkeit dienten die zuvor eingezahlten Summen der Grundsicherung. Für den vollen Lebensunterhalt musste auf Ersparnisse zurückgegriffen oder Unterstützung durch die Familie in Anspruch genommen werden. Bis in die Nachkriegszeit blieb dieses kapitalgedeckte Rentensystem in seinen Grundzügen gültig. Eine Anpassung an die steigenden Preise und Löhne fand nicht statt, obwohl viele Menschen im Krieg nicht nur ihre Angehörigen, sondern auch ihre Ersparnisse verloren hatten. Die Rente blieb ihnen als einzige Einkommensquelle. Durch eine Rentenreform sollte den Rentner*innen neue Sicherheit gegeben werden. Doch nach ersten Ankündigungen im Jahr 1953 geschah wenig, die Regierung Konrad Adenauers geriet stark in die Kritik.
Der „Schreiber Plan“
Den Ausschlag für eine große Reform gaben schließlich die Ergebnisse einer vom Bundesinnenministerium beim Statistischen Bundesamt in Auftrag gegebenen Studie zur sozialen Lage der Renten- und Unterstützungsempfänger*innen, die zur Jahreswende 1954/55 veröffentlicht wurde. Eine Erhöhung der Sozialleistungen erschien dringend erforderlich: Der durchschnittliche Nettobetrag der Rentenleistungen lag bei 62,90 DM, das entsprach nur etwa einem Drittel eines durchschnittlichen Lohns und lag damit deutlich unter den Fürsorge-Richtsätzen, also am Existenzminimum.
Einen Plan zur Reform der Rentenversicherung legte neben anderen auch Wilfrid Schreiber vor, der vor dem Krieg als Schriftsteller und Journalist tätig war. Seit 1933 Mitglied der NSDAP, unterstütze er ab 1934 als Rundfunkredakteur die Propaganda der Partei. Nach dem Ende der Diktatur engagierte ihn der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) als Berater, außerdem unterrichtete er als Dozent an der Universität Bonn Wirtschaftstheorie, Sozialpolitik und Statistik.
Ein Generationenvertrag
Schreibers Reformentwurf sah eine einheitliche gesetzliche Pflichtversicherung anstelle der selbständigen Invaliden-, Angestellten- und Knappschafts-Rentenversicherungen vor. Entscheidend aber war die Ablösung des bisherigen Kapitaldeckungsprinzips zugunsten eines neuartigen Umlageverfahrens. Der sogenannte Generationenvertrag sah vor, dass jede*r Erwerbstätige einen bestimmten Prozentsatz des Bruttoeinkommens in die Rentenkasse einzahlte, aus der dann die laufenden Rentenleistungen gezahlt wurden. Außerdem schlug Schreiber vor, die Bemessung der Renten neu zu bestimmen. Er entwickelte eine Berechnungsformel, die unter anderem an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt war. Dieses Prinzip der dynamischen Rente sollte eine spürbare Erhöhung der Sozialleistungen mit sich bringen.
Erbittert geführte Debatten
Die Kontroversen um die Rentenreform 1957 sind als „Rentenschlacht“ in die Geschichte eingegangen. Bereits im Vorfeld waren die Vorschläge im Bundestagsausschuss für Sozialpolitik und in der Öffentlichkeit heftig diskutiert worden. Es ging um Grundsätzliches: Entsprechend lange und leidenschaftlich wurden die Debatten zur zweiten Lesung des Gesetzes geführt. In einem viertägigen Redemarathon diskutierte das Parlament Hunderte Paragrafen und Änderungsanträge. Einzelne Abgeordnete meldeten sich dutzende Male zu Wort. Am Ende stimmte der Bundestag am 21. Januar 1957 der Reform mit großer Mehrheit zu.
Der Union brachte die vor allem von Konrad Adenauer mit Blick auf die baldige Bundestagswahl betriebene Reform den erwünschten Erfolg. Die Erstauszahlung der neuen Rentenbeiträge im April 1957 verband sie geschickt mit einer umfassenden PR-Aktion. Bei der Bundestagswahl im September 1957 erreichte die CDU/CSU die absolute Mehrheit.
Beitrag des ifo zur Rentendebatte
Bereits 1956 erscheint in der Schriftenreihe des ifo Instituts eine Untersuchung „Zur volkswirtschaftlichen Problematik der dynamischen Sozialrente“. Da bedeutende Auswirkungen der anstehenden Rentenreform für die Wirtschaft Westdeutschlands zu erwarten seien, sollten einige grundsätzliche volkswirtschaftliche Probleme erörtert werden. Die Studie plädiert ganz im Sinne von Wilfrid Schreiber für eine möglichst geringe Einwirkung des Staates auf die Rentenentwicklung, die wie geplant automatisch, ohne periodische Überprüfung durch politische Instanzen, an die Lohn- und damit an die Marktentwicklung gebunden sein sollte. Des Weiteren mahnt das ifo Institut in dieser Studie, mit der Reform deutliche Anreize für eine individuelle Altersversorgung zu setzen und mit den einzelnen Maßnahmen stark auf das Bewusstsein jedes Einzelnen einzuwirken, der die Gesetze und damit auch die Grenzen des staatlichen Rentensystems erkennen müsse.
Mit Inkrafttreten der Reform wurde das Leistungsniveau um durchschnittlich 65% angehoben. In den Jahren bis 1969 stieg das Lohnniveau um 115,7%, die Renten wurden um 110,5% erhöht und reichten nun im Allgemeinen aus, den Lebensunterhalt zu sichern. Und verlässlich wurde die Rente auch: Nachdem Wirtschaftskrisen, Kriege und Währungsreformen zuvor noch große Vermögensbestände der Rentenversicherer vernichtet hatten, wurde das System durch den Wechsel zum Umlageverfahren nun sicherer.
Meilenstein
Künstliche Intelligenz: Chance oder Gefahr?
Es ist unbestritten, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Gesellschaft, insbesondere die Arbeitswelt, verändert. Große Unsicherheit besteht aber über das „Wie“. Ist ihr Einsatz eher eine Chance oder doch eher eine Gefahr? Auf der einen Seite werden größere Effizienz, Dynamik und neue Geschäftsmodelle erwartet. Auf der anderen Seite sind mit diesen Möglichkeiten Ängste verbunden – für die Wirtschaft wie auch für die Gesellschaft. Entwickelt sich die KI zum Jobkiller? Wird die KI aufgrund ihrer mangelnden Nachvollziehbarkeit sogar unkontrollierbar? Ein geeigneter Rahmen für den Umgang mit KI-Technologien ist unerlässlich.
KI, Cloud Computing und Blockchain – wo steht die deutsche Wirtschaft?
Digitale Technologien verändern nicht nur die Effizienz und den Ablauf von Produktionsprozessen, sondern haben auch einen tiefgreifenden, disruptiven Einfluss auf unsere Wirtschaft, der oft mit dem Begriff „digitaler Wandel“ umfasst wird. Der digitale Wandel bezeichnet die Integration digitaler Technologien in die wirtschaftlichen Arbeitsabläufe, aber auch ihre Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse und die Gesellschaft insgesamt.
Zu den zahlreichen neuen Technologien, die in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Fortschritt und eine breite Akzeptanz erfahren haben, gehören digitale Plattformen, das Internet der Dinge (Internet of Things/IoT), Robotik, Cloud Computing, Blockchain und nicht zuletzt Künstliche Intelligenz.
Durch die breitgefächerte Anwendung und tiefreichende Verbreitung von KI entstehen innovative Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle, die in einer Vielzahl von Branchen, von Logistik und Energie über Landwirtschaft, Handel, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Verarbeitendes Gewerbe bis hin zur Gesundheitsversorgung, Anwendung finden. Sie haben gar das Potenzial, das Leben der Menschen und die Gesellschaft nachhaltig zu verändern.
Alle drei Technologien verfügen über die Fähigkeit, bestehende Geschäftsmodelle und die Art und Weise, wie Wissen, Produkte und Dienstleistungen entstehen und ausgetauscht werden, maßgeblich zu verändern.
ChatGPT rückt KI in die Mitte der Gesellschaft
KI-basierte Systeme nutzen Techniken wie maschinelles Lernen und Deep Learning, um mit Hilfe großer Datenmengen komplexe Aufgaben wie Mustererkennung, Sprachverarbeitung, Trendanalyse und Entscheidungsfindung zu automatisieren. Höhere Rechenleistungen, Verfügbarkeit großer Datenmengen und neue Algorithmen haben zu einer rasanten Weiterentwicklung der KI-Technologie geführt und breite Anwendung über sämtliche Wirtschaftsbereiche hinweg ermöglicht. Zuletzt hat insbesondere die Verbreitung von Chatbot-Anwendungen, wie beispielsweise ChatGPT des Unternehmens OpenAI, KI in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt.
KI in Unternehmen: Personaler*innen haben Bedenken beim Einsatz
Bei 86% der deutschen Personalverantwortlichen bestehen Bedenken gegenüber dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in ihrem Unternehmen. Das geht aus der jüngsten Randstad-ifo-Personalleiterbefragung hervor. Am häufigsten gaben die Personaler*innen fehlendes Know-how als Grund an (62%). Rechtliche Aspekte sind für 48% ein Thema. Fehlendes Vertrauen in KI haben 34%. Bei einem Viertel ist eine fehlende Akzeptanz hinderlich für den Einsatz von KI. Für 22% ist durch KI kein Mehrwert ersichtlich. Den großen Aufwand für KI sehen 19% kritisch, hohe Kosten 18%.
KI im Fokus bei den Munich Economic Debates (MED) 2024
In unserer Veranstaltungsreihe der Munich Economic Debates (MED) stehen wir das ganze Jahr über im Dialog über die Auswirkungen und Potenziale von Künstlicher Intelligenz (KI) in verschiedenen Bereichen. Wir laden Expert*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft ein, um gemeinsam die Chancen und Herausforderungen dieser Technologie zu diskutieren. Veranstaltungsankündigungen und neues zu den Livestreams finden Sie auf unseren ifo-Webseiten. Schauen Sie vorbei und seien Sie Teil des Dialogs über die Zukunft von KI!
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Very shocking! Der Brexit 2016 und seine Folgen
Das Verhältnis der Brit*innen zur Europäischen Union war immer distanziert. Am Brexit-Referendum von 2016 beteiligten sich 72,2% der Wahlberechtigten – 51,9% stimmten für den Austritt aus der EU. Damit war das Vereinigte Königreich das erste Mitglied, das die Gemeinschaft verlassen hat. Mit immensen wirtschaftlichen Folgen, wie das ifo Institut berechnet hat. Nach intensiven einjährigen Verhandlungen trat 2021 ein neues Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in Kraft.
Wie konnte es dazu kommen?
Der Brexit versprach bessere Kontrolle der Zuwanderung in das Vereinigte Königreich, keine Zahlungen mehr an die EU und volle Souveränität. Dagegen standen Warnungen, durch den Ausstieg aus dem Binnenmarkt sei die ökonomische Stabilität der Insel gefährdet. Politiker*innen unterschiedlicher Lager diskutierten heftig – im Parlament, in Zeitungen, Talkshows und Sozialen Medien. Deutliche Anzeichen für eine Brexit-Stimmung waren schon 2014 zu erkennen: 2013 hatte Premierminister David Cameron angekündigt, die Verträge zwischen Großbritannien und der Europäischen Union zu reformieren. Nach dem Wahlsieg der Konservativen Partei 2015 unter Cameron wurde das Brexit-Referendum für das Jahr 2016 angesetzt. Außerdem konnte der Premierminister in der EU weitere Sonderreglungen für Großbritannien durchsetzen – für den Fall, dass sich das Volk gegen einen Brexit aussprechen würde.
Ein gespaltenes Königreich
Das Ergebnis des Brexit-Referendums machte klar, welch tiefe Gräben das Vereinigte Königreich durchzogen. In England und Wales votierte eine Mehrheit für den Brexit, in Nordirland und Schottland stimmte der Großteil der Bevölkerung für den Verbleib in der EU, ebenso die Wahlberechtigten in London. Doch die Trennlinien machten sich nicht nur regional bemerkbar, sondern auch zwischen den Generationen. Unter den jungen Brit*innen stimmten deutlich mehr für den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft als unter den älteren Landsleuten. Im November 2018 vereinbarte Theresa May, die Nachfolgerin David Camerons, mit der EU einen vorläufigen Austrittsvertrag. Der endgültige Ausstieg war für den 29. März 2019 geplant, musste aber auf den 12. April und schließlich auf den 31. Oktober verschoben werden. Zu komplex und langwierig erwies sich die Ausarbeitung der Details zwischen den Verhandlungspartnern.
Ein zähes Ende
Von der Öffentlichkeit und ihrer eigenen Partei heftig kritisiert, verkündete Theresa May im Sommer 2019 ihren Rücktritt. Ihr Nachfolger Boris Johnson stimmte seine Landsleute auf einen harten Brexit ohne vertragliche Vereinbarungen ein. Nachdem aber das britische Parlament ein Gesetz gegen einen ungeregelten Brexit auf den Weg gebracht hatte, verschob die EU den Austritt noch einmal auf den 31. Januar 2020 – wo er dann wirklich stattfand. Noch immer fehlte ein Handelsabkommen, verbunden mit einer Freihandelsvereinbarung. Es konnte nach langwierigen Verhandlungen erst am 1. Januar 2021 in Kraft treten. Nun werden im bilateralen Handel zwar weiterhin keine Zölle fällig, bei Exporten aus dem Vereinigten Königreich müssen aber umfangreiche Zollformalitäten beachtet werden. Weitere Kooperationen wurden geschlossen, etwa auf den Feldern Kriminalitätsbekämpfung, Klimapolitik und Energieversorgung. Die Zusammenarbeit wurde damit auf wichtigen Gebieten fortgesetzt und Großbritannien nicht vollständig von der EU getrennt.
Wirtschaftliche Folgen des Brexits
Aktuell sind – wie von den Gegnern des Brexit prognostiziert – die negativen wirtschaftlichen Folgen für die EU-Länder weniger schwerwiegend als für Großbritannien. Immerhin ist die Insel von Platz drei der wichtigsten Handelspartner Deutschlands im Jahr 2015 auf Platz zehn im Jahr 2021 abgestiegen. 2022 aktualisierte das ifo Institut seine erste Studie zu den Folgewirkungen des Brexit aus dem Jahr 2017. Die wichtigsten Erkenntnisse:
Seit dem Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 wertete das britische Pfund um etwa 13% ab. Die deutschen Güterexporte in das Vereinigte Königreich sind seit 2016 nominell von 90 Milliarden Euro auf 84 Milliarden zurückgegangen. In vielen Branchen hat sich der Anteil des Vereinigten Königreichs am deutschen Import und Export deutlich verringert, besonders in den Sektoren Chemie, Fahrzeuge, Papier und Mineralprodukte. Die EU-Mitgliedstaaten sind unterschiedlich betroffen. Die wirtschaftliche Größe, aber auch die geographische und kulturelle Nähe spielen eine wichtige Rolle – je näher ein Land dem Vereinigten Königreich steht, desto höher fallen dessen Verluste aus.
Auch wenn die EU insgesamt und Deutschland im Besonderen durch den Brexit geringere wirtschaftliche Einbußen zu verzeichnen haben als Großbritannien selbst, die Folgen des Brexit sind gravierend. Und beide Seiten leiden unter der Ungewissheit über die künftige Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen.